Meilensteine der Naturwissenschaft und Technik Vom Farbstoff zum Medikament
Was hat Teer mit leuchtend bunten Stoffen zu tun? Ziemlich viel! Lange Zeit war Teer der wichtigste Ausgangsstoff für die Farbherstellung. Dann entdeckten Medizinforscher, dass künstliche Farbstoffe sogar Bakterien wie den Syphiliserreger abtöten. Oder wie das Aspirin den Kopfschmerz bekämpfen.
Purpur, der rote Farbstoff der Purpurschnecken, war seit dem Altertum den Mächtigen und Reichen vorbehalten. Für den Königsmantel Ludwigs I. z. B. mussten drei Millionen Purpurschnecken sterben. Weniger vermögende Kreise mussten für ihre Kleidung mit billigeren Mineral- und Pflanzenfarben auskommen - bis das aufstrebende Bürgertum im 19. Jahrhundert nach mehr Farbe in seiner Kleidung verlangte. Naturfarben wie Indigo, die aus Indien und anderen Überseekolonien importiert worden waren, wurden nun durch industriell hergestellte Teerfarbstoffe ersetzt.
Die Entdeckung der Teerfarbstoffe war eine Folge der Einführung der Gasbeleuchtung im 19. Jahrhundert. Der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge bemerkte 1833 beim Destillieren scheinbar überflüssiger Teerrückstände, dass sich das Destillat in Chlorkalk blau färbt und nannte den neuen Farbstoff "Cyanol" - später erhielt er den noch heute gültigen Namen Anilin.
Der Chemiker Wilhelm August Hofmann machte das Anilin, das man damals auch aus Indigo herstellt, zum Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit. Hofmanns Ruf drang bis in die damals führende Wirtschaftsmacht England, er erhielt einen Ruf nach London an und wurde zum Superintendenten des Royal College of Chemistry berufen. Einer seiner begabtesten Schüler war William Henry Perkin, den er mit 17 Jahren zu seinem Assistenten bestellte. Hofmann beauftragte ihn, Chinin synthetisch herzustellen. Dieses für die Kolonialmacht England wichtige Medikament gegen die Malaria wurde damals mit großem Aufwand aus Chinarinde gewonnen. Perkin entdeckte beim Experimentieren zwar kein Chinin, stattdessen aber einen roten Farbstoff, der sich zum Färben von Textilien eignete - den ersten Teerfarbstoff. Perkin kehrte dem College den Rücken und gründete eine Farbenfabrik, in der er das "Anilinpurpur" in großem Maßstab herstellte.
Bald wurden weitere Teerfarbstoffe wie das Fuchsin entdeckt, meist sind es Produkte zufälligen Experimentierens. August Kekulé von Stradonitz schließlich konnte die Struktur des chemischen Grundstoffes Benzol aufklären und lieferte damit die Grundlage für die Schaffung weiterer synthetischer Farbstoffe. So gelang es, mit Mitteln der Strukturchemie den Farbstoff Krapp gezielt synthetisch herzustellen.
Nicht nur die Textilindustrie profitierte von den neuen, preiswerten Farbstoffen. Biologen und Mediziner erhielten durch sie die Möglichkeit, kontrastschwache Objekte wie Mikroben oder Gewebeteile anzufärben und so besser sichtbar zu machen. Robert Koch z. B. gelang 1882 mit Hilfe der Methylenblaufärbung der Nachweis des Tuberkuloseerregers. In der Folge erkannten die Forscher, dass sich mit bestimmten Farbstoffen Bakterien anfärben lassen, menschliches Gewebe aber nicht. Mit solchen giftigen Farbstoffen müssten sich daher Bakterien vernichten lassen, ohne den erkrankten Menschen zu schädigen. Kochs Mitarbeiter Paul Ehrlich fand so 1910 eine Substanz, die mit nur geringen Nebenwirkungen für den Patienten den Erreger der Syphilis wirksam bekämpfte, das Salvarsan. Weitere Mittel folgten, beispielsweise das Germanin gegen die Schlafkrankheit oder das weltbekannte Aspirin. Auch die von Gerhard Domagk 1932 erfundenen Sulfonamide sind abgewandelte Farbstoffe. Durch chemische Abwandlung der Stuktur entstanden in den nächsten Jahren über 1.000 verschiedene Sulfonamide - vollsynthetische Medikamente gegen eine Vielzahl bisher lebensgefährlicher Infektionskrankheiten.
Aus den primitiven Farbenfabriken von einst sind inzwischen hochmoderne pharmazeutische Betriebe geworden. Der Grundstoff Teer hat nach dem 2. Weltkrieg seine Bedeutung verloren, Erdöl ist an seine Stelle getreten. Geblieben aber ist die aus der Farbstoffforschung entwickelte Strukturchemie, die heute mit Hilfe der Computersimulation zu besseren und schnelleren Forschungsergebnissen führt.