Arbeit am Theater Wer bin ich und wer könnte ich sein?
Mach bloß kein Theater! Aber warum eigentlich nicht? Einmal einen anderen Menschen anziehen, den inneren Tapetenwechsel wagen, sich ausprobieren, emotionales Neuland entdecken. Vier Regensburger Schüler tun genau das: Sie erarbeiten ein Theaterstück und schlüpfen dabei in ein zweites Ich auf Zeit.
Koray, Kyra, Andreas und Paulina sind vier ganz normale Jugendliche aus Regensburg. Na ja, fast normal. Denn momentan ist jeder von ihnen mindestens zwei Personen. Einmal die, die sie immer sind. Und einmal die, die sie auf der Bühne darstellen. Obwohl Bühne nicht ganz stimmt. Das Stück komA, für das die vier schon seit Monaten proben, wird nicht im Theater, sondern in einem Schulgebäude, am Regensburger Albrecht-Altdorfer-Gymnasium, aufgeführt.
Die Suche nach dem Menschen findet auf der Bühne statt
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Und da gehört das Stück auch hin. Denn in komA ist die Schule der Ort, an dem sich die Lebenslinien sehr unterschiedlicher Figuren kreuzen. Da wird gemobbt, geturtelt, geliebt und geschlagen. Es geht um Konflikte und Freundschaften, um Liebe und Eifersucht, um Schwierigkeiten miteinander und mit sich selbst, um Probleme im Elternhaus, im Unterricht und in der Clique. Und am Ende läuft einer Amok, weil der Druck zu groß wird.
Zur Dynamik des Inhalts passt auch die Dynamik der Aufführung. Die Szenen spielen an den unterschiedlichsten Orten des Schulgebäudes, im Fahrradkeller, im Treppenhaus, im Turnsaal, in Klassenzimmern und anderen Räumen. Wer das Stück komA sehen will, muss also buchstäblich mitgehen und die Darsteller von Station zu Station durch das Haus begleiten.
Spiel mit ernstem Hintergrund
Diese ganz spezielle Art bewegtes und bewegendes Theater zu machen, ist typisch für Petra Siegel. Sie leitet das Theater Regenbogen, den Jugendtheaterclub am Theater Regensburg. Hier haben Jugendliche die Chance, ein Stück zusammen mit Vollprofis zu erarbeiten und aufzuführen. Wobei vor allem "erarbeiten" wörtlich zu verstehen ist: Die Proben ziehen sich über mehrere Monate hin und sind ganz schön anstrengend. Denn Armin Petarka, der Regisseur des Stücks, geht die Sache hoch professionell an. Bevor er mit der konkreten Arbeit an den Szenen beginnt, führt er seine jungen Schauspieler durch freie Textarbeit, Improvisationen, Sprech- und Körperübungen an das Handwerk heran. Koray, Kyra, Andreas, Paulina und alle Mitwirkenden müssen erst einmal lernen, welche Haltung sie für ihre Rollen brauchen, um authentisch zu wirken, welche Mimik sie nutzen können und welche Gestik. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die intensive Figurenarbeit. Die jungen Schauspieler müssen in den Kopf, in die Seele, in den Körper und in die Sprache ihrer Figuren schlüpfen. Sie müssen sich mit der Rolle identifizieren und spüren, wie sich die Figur von innen anfühlt, um sie glaubhaft zu verkörpern.
Einen anderen Menschen anziehen
Klar gibt Petarka den Jugendlichen durch Gespräche, Übungen und vorsichtiges Herantasten immer wieder Impulse und Hilfestellungen. Aber letztlich muss jeder seine eigene Methode entwickeln. Auch Andreas, der den aggressiven Schläger Dominik spielt, hat seinen ganz speziellen Figurenzugang gefunden: "Ich habe zuerst Freunde angeschaut, die eine aggressive Grundhaltung haben und ich hab' in mir selber geschaut: wo ist die Aggressivität, die jeder kennt, wenn zu viele Reize auf einen einprasseln, dass man mit seinem Umfeld nicht klar kommt, dass man dann einfach austickt und das hab' ich dann beides umgemünzt auf diesen Dominik, hab' mir angeschaut, in welchen Situationen würde der total ausflippen, hab' mir Mimik und Gestik überlegt."
Der innere Tapetenwechsel
Je näher die Premiere rückt, desto intensiver wird die Arbeit. In den Schulferien, während andere Jobben oder Verreisen, probt das Laienensemble täglich mehrere Stunden am Stück. Warum nehmen sie den Stress auf sich, das Einstudieren, das Auswendiglernen, das Lampenfieber? Vielleicht nur darum, weil die Arbeit an der Rolle eine abenteuerliche Begegnung mit sich selbst ist, ein Spiel mit den eigenen (Un)Möglichkeiten, ein Austesten wie man ist, wie man sein könnte, wie man gern wäre. Paulina, sie spielt die Mega-Tussi Naima, bringt die Lust an der Last auf den Punkt: "Jeder Mensch hat so viele Facetten. Man kann viele Facetten auch gar nicht ausleben und da ist das Theater 'ne gute Alternative, um sich auszutoben, um Seiten von sich zu studieren und auszubauen, die man von sich sonst gar nicht kennt oder mag, oder, die man vielleicht doch mag, aber sich nicht ausleben traut und ich denk, damit hab' ich mit Theaterspielen angefangen."
Seelennahrung und Wachstumshormon
Am Ende hat sich alles gelohnt. Die intensive Arbeit, der Angstschweiß, der Kontakt mit den eigenen Grenzen, die Selbstfindung im Anderen, nichts war umsonst. Die Aufführungen am Regensburger Albrecht-Altdorfer-Gymnasium sind ein voller Erfolg, für das Ensemble und auch für jeden Einzelnen ganz persönlich. Kein Wunder. Denn "Kinder- und Jugendtheater ist kein süßer Nachtisch, kein Luxus", sagt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen. "Theater gehört als Hauptgericht, Vollwertkost und seelisches Nahrungsmittel zur Grundversorgung jedes Kindes und jedes Jugendlichen, um innerlich zu wachsen."