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Ratten Eklige Plagegeister oder schlaue Haustiere?

Auf den ersten Blick sind sie wirklich keine Schönheiten, die dicken Ratten mit ihrem langen unbehaarten Schwanz, die sich in dunklen Ecken herumtreiben. Aber statt einem "Iiih" könnten sie euch künftig auch ein "Oooh" entlocken!

Stand: 10.05.2022

Ratte | Bild: colourbox.com

Manchmal sieht man einen großen dunklen Fleck mit einem langen Schwanz um die Ecke huschen und in irgendeinem dubiosen Versteck verschwinden: eine Ratte! Statt Verzücken ins Gesicht zaubert sie den meisten Betrachtern Gänsehaut auf den Arm. Aber warum eigentlich?

Ratten - Schmusetiere mit markantem Geruch

Ratten werden auch die "Hunde des kleinen Mannes" genannt. Mit Meerschweinchen und Goldhamstern können sie locker mithalten.

Vielleicht habt ihr auch schon mal darüber nachgedacht, euch ein Nagetier als Haustier zuzulegen? Ratten mögen da vielleicht nicht ganz so populär sein. Stubenrein sind sie auch nicht. Dafür bringen sie ihr eigenes Aroma mit: Als "nussig" wird es in einem Buch für Heimtierrattenhalter beschrieben. Aber jene Rattenhalterinnen und -halter sind Ratten keine Ekel-, sondern schlaue Schmusetiere. Im Gegensatz zu Meerschweinchen, Kaninchen und Goldhamster seien sie wirklich intelligent.

"Ratten sind Tiere, die eine innige Freundschaft zum Pfleger aufbauen können. Wenn die Ratten einem ihr Herz geschenkt haben, dann gehört einem das wirklich bis zum Lebensende."

Karin Lauscher, Rattenzüchterin

Von der Wanderratte zum Haustier

Zoologische Systematik

  • Ordnung: Nagetiere
  • Unterordnung: Mäuseverwandte
  • Familie: Langschwanzmäuse
  • Gattung: Ratten
  • Art: Hausratte, Wanderratte, Laborratte, Heimtierratte

Ratten gehören zu den Nagetieren. Weltweit gibt es mehr als sechzig Rattenarten, die meisten davon in Südostasien, Neuguinea und Australien. Die Tiere, die bei uns als Haustiere gehalten werden, sind sogenannte Farbratten. Sie stammen von Laborratten ab und die wiederum von der Wanderratte. Wanderratten sind graubraun, werden bis zu einem Pfund schwer und rund dreißig Zentimeter lang, dazu kommt der fast ebenso lange Schwanz. Oben und unten besitzt der Allesfresser mit Vorliebe für fleischliche Kost je zwei imposante Nagezähne. Eine Wanderratte bringt in einem Wurf meist acht oder neun Junge zur Welt, es können aber auch mal zwanzig sein. Die Kleinen wiegen fünf bis sieben Gramm, sind nackt und blind. Mit 22 Tagen verlassen sie das Nest, nach zwei bis drei Monaten sind sie selbst wieder geschlechtsreif.

Wie sich die Hausratte in Europa ausbreiteten

Irgendwie schon putzig, oder? Hierbei handelt es sich um eine Hausratte. Sie sind kleiner und dunkler als Wanderraten.

Hausratten (Rattus rattus) sind kleiner und dunkler als Wanderraten (Rattus norvegicus). Ihre Schnauze ist spitzer und sie bevorzugen vegetarische Kost. Meist leben sie auf Dachböden, gerne auf dem Land. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie jedoch weitgehend verdrängt. Immer mehr alte Gebäude werden saniert, Dächer ausgebaut und gedämmt. Die veränderte Art der Vorratshaltung und die Silos in der Landwirtschaft machen es den Hausratten schwer, Nahrung zu finden.

Aber wie kam die Hausratte überhaupt zu uns? Eine Studie aus dem Jahr 2022 konnte zeigen, dass sie sich gleich zweimal in Europa breitgemacht hat: einmal zur Zeit der römischen Expansion, die nicht nur die Römerinnen und Römer nordwärts führte, sondern auch die Hausratte. Das nächste Mal konnte sie sich im Mittelalter ausbreiten, als der Austausch und Handel mit fernen Städten wieder aufblühte. Ein internationales Forscherteam hatte dafür die Genome alter Hausratten analysiert.

"Diese Studie ist ein großartiges Beispiel dafür, wie der genetische Hintergrund von Arten wie der Hausratte, die im Umkreis menschlicher Siedlungen leben, menschliche historische oder ökonomische Ereignisse widerspiegeln kann. Wir können noch viel von diesen häufig nicht für wichtig befundenen kleinen Tieren lernen."

He Yu, Forscherin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig

Unsere heimlichen Nachbarn: Wanderratten

Mittlerweile sieht man Wanderratten häufiger laufen als Hausratten.

Die Wanderratten sind unsere heimlichen Nachbarn in den Städten. Schätzungen zufolge gibt es in Großstädten so viele Wanderratten wie Menschen: in den Kanalsystemen unter Häusern und Straßen, in Kellern von Altbauten, in der Nähe von Mülltonnen, in alten Fabriken und Lagerhäusern. Sie verbergen sich geschickt und passen sich ihren zweibeinigen Nachbarn an.

"Ekeltiere wären eigentlich nur die Kanalratten. Und da ist es so, dass es uns wahrscheinlich ekelt, dass die Ratten in den Fäkalien des Menschen herumlaufen und sich davon wahrscheinlich auch ernähren."

Rainer Hutterer, Rattenexperte am Zoologischen Museum in Bonn

Die Ratte - vom Essensdieb zum Ekelvieh

Du Ratte!

Ganz und gar nicht rattenscharfe Schimpfwörter und Redewendungen gibt's viele:

  • feige, hinterhältige, gemeine, boshafte, stinkende, alte Ratte
  • im Bairischen ist von der "Ratz" und "verratzt" die Rede
  • Landratte
  • Rattenpack
  • jemand sieht aus wie eine Ratte
  • Ratten verlassen das sinkende Schiff zuerst
  • ein Rattenschwanz an Problemen
  • ein Rattenloch als schlimme Behausung

Zu Ekeltieren wurden Ratten in einer langen kulturellen Tradition gemacht. Sie dienen als widerwärtige Statisten oder gar selbst als Angreifer in Filmen und treiben in der Literatur ihr Unwesen. Eine reale Grundlage hat der derart transportierte Ekel vor Ratten darin, dass Ratten mit uns um Nahrung konkurrieren und Krankheitserreger in sich tragen können. "Ratten können durchaus große Schäden anrichten, vor allem in der Vorratshaltung, in Getreidespeichern und anderen landwirtschaftlichen Betrieben. Kot und Urin machen das Getreide unbrauchbar. Sie fressen eine ganze Menge weg und bauen ihre Nester darin", sagt Rainer Hutterer, Rattenexperte am Zoologischen Museum in Bonn. Tatsächliches Unheil brachten Ratten früher: die Pest. Sie wurden vom Pestfloh infiziert und brachten die Flöhe unter die Menschen, die sich dann wiederum gegenseitig ansteckten.

Fallen und Gift stören Ratten wenig

Fallen und Giftköder töten bestenfalls eine Ratte. Die übrigen Tiere lernen daraus.

Rattenfallen helfen nicht nur wenig, sie machen die Ratten nur stärker: Die Tiere, die von den Fallen nicht gleich getötet werden, warnen die anderen. Frisst eine Ratte Gift, schreckt der sterbende Nager die anderen ab, indem er den Köder mit Kot und Urin markiert. Rainer Hutterer kennt aber noch ganz andere Fälle: "Es gibt Bereiche in Nordwestdeutschland, wo die Wanderratten unempfindlich geworden sind gegen Rodentizide, sodass das Rattengift nicht mehr wirkt. Und das muss man sich so vorstellen, dass die Tiere, die überleben, selektiert werden. Dadurch wird der Anteil der Tiere, die genetisch gegen diese Rattengifte immun sind, erhöht. So erzeugt man in kurzer Zeit Rattenpopulationen, die man nicht mehr mit Gift bekämpfen kann." Besser vorsorgen: Abfälle an sicheren Orten aufbewahren, keine Essensreste in den Hauskompost werfen, Rohrleitungen in Ordnung halten und keine wildlebenden Tiere füttern.

Die Ratte - als Laborratte gut genug

Sie vermehren sich schnell, sind günstig zu haben und zu halten. Ratten müssen deshalb häufig für Versuche herhalten.

Dass Ratten Ekel und Abwehr auslösen, senkt die ethischen Grenzen, mit ihnen zu experimentieren. Dass sie sich noch dazu schnell vermehren und preiswert zu halten sind, macht sie zu oft genutzten Versuchstieren: Allein in Deutschland werden schätzungsweise eine halbe Million Ratten pro Jahr für medizinische Experimente "verbraucht", wie es die Fachleute nennen. "Es gibt über hundert Stämme von Laborratten, die für bestimmte Zwecke gezüchtet werden. Die werden sozusagen als Inzuchtstämme gehalten, damit sie immer dieselben Eigenschaften und das Aussehen behalten, die gebraucht werden", erzählt Rainer Hutterer. An sogenannten Krebsratten wird zum Beispiel die Krebsgefährlichkeit von bestimmten Stoffen getestet.

Ratten kuscheln gerne

Ratten werden oft unterschätzt. Den Ekelstempel haben sie eigentlich nicht verdient.

Von den Laborratten stammen die als Haustiere gehaltenen Farbratten ab, die sehr krankheitsanfällig sind. Häufig sterben sie an Tumoren und Atemwegserkrankungen und sind vermutlich auch weniger intelligent als wildlebende Wanderratten. Aber sie suchen immer noch Körperkontakt: "Eigentlich ist das bei allen Nagetieren und bodenlebenden Tieren angelegt: Sie leben in einem Gangsystem aus engen Tunneln, die sie gegraben haben. Da haben sie überall Körperkontakt und ihre Haare fungieren auch als Tastinstrumente, sie können damit ihre Umgebung abtasten. Insofern haben alle diese Nagetiere, die im Boden leben, eine gewisse Tendenz zum Körperkontakt", weiß Rattenexperte Rainer Hutterer.

Ratten sind kleine, kluge, kreative Gottheiten

In Indien werden Ratten sogar verehrt: In Deshnok, nahe der pakistanischen Grenze, gibt es den hinduistischen Karni-Mata-Tempel, in dem schon seit dem 14. Jahrhundert Ratten gehuldigt wird. Mittlerweile werden hier rund 20.000 Nager gehalten und gefüttert, weil dem Glauben nach die Seelen der verstorbenen Kinder in den Tieren wiedergeboren werden. In China gelten Ratten als kreative, kluge Tiere. Im Astrologie-Kalender gibt es sogar das Jahr der Ratte. In vielen Ländern werden Ratten und andere Nagetiere gejagt, weil ihr Fleisch als schmackhafte Nahrung geschätzt wird. Im abendländischen Kulturkreis ändert sich allmählich das Bild der Ekelratte. In Kinderbüchern tauchen vermehrt "gute" Ratten auf. Über die Leinwand wuseln mittlerweile auch lustige, schlaue Gesellen, die selbst spitzenmäßig kochen.

Die Ratte - ein soziales Tier: Der Rattenclan hält zusammen

Ratten beknabbern und putzen sich gegenseitig. Ein Liebesbeweis.

Ratten sind nicht nur schlau, sondern auch sozial. Sie leben in Familienverbänden - in Clans aus einem starken und einigen schwächeren Männchen und einer großen Zahl von Weibchen. Die Mitglieder erkennen sich am Geruch. Stärkere Tiere überlassen schwächeren und Jungtieren den Vortritt beim Fressen, um den Fortbestand des Clans zu sichern. Clanfremde Tiere werden oft durch Geräusche im Ultraschallbereich vertrieben und nur dann angegriffen, wenn sie nicht verschwinden. Heimtückisch und gemein sind sie also nicht.

Ratten merken sich Hilfsbereitschaft ihrer Artgenossen und revanchieren sich

"Wie du mir, so ich dir": Ratten revanchieren sich bei der Hilfe ihrer Artgenossen sehr genau, wie eine Studie zeigt.

Ratten sind nicht nur soziale Tiere, sondern können sich sogar die Hilfsbereitschaft ihrer Artgenossen merken und sich bei nächster Gelegenheit bei ihnen revanchieren. Das konnten Wissenschaftler um Michael Taborsky vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern in einer Anfang Februar 2021 im Fachblatt "Scientific Reports" erschienenen Studie belegen. Die Forscher um Taborsky hatten eine Wanderratte gemeinsam mit vier weiteren Artgenossen vier Tage in einen Käfig gesperrt. Die vier Wanderratten konnten der einzelnen Ratte Haferflocken zuschanzen, indem sie an einem Stab zogen.

Ratten erinnern sich sogar an den Umfang der Hilfe

Am fünften Tag drehten die Wissenschaftler den Spieß um. Nun konnte die Ratte, die zuvor von ihren Artgenossen Futter erhalten hatte, ihrerseits ihre "Kollegen" mit Futter versorgen. Herauskam: Die Ratte, die das Futter verteilen konnte, gab jedem einzelnen ihrer Artgenossen genau die Futtermenge zurück, die sie zuvor von ihnen erhalten hatte. Laut der Wissenschaftler zeige dies, dass die untersuchten Ratten die im Tierreich seltene Gabe besitzen, sich an den Umfang der Hilfsbereitschaft einzelner Artgenossen genau erinnern zu können, auch dann, wenn mehrere Tiere beteiligt sind.


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