Literaturnobelpreis 2013 Alice Munro, die Königin der Kurzgeschichten
Den Nobelpreis für Literatur erhält in diesem Jahr die kanadische Autorin Alice Munro. Für ihre feinfühligen, realitätsnahen Kurzgeschichten bekommt die 82-Jährige die bedeutendste literarische Auszeichnung der Welt.

Das Nobel-Komitee würdigte Alice Munro als "Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte". Einen einzigen Roman hat die zierliche Dame veröffentlicht - aber 13 Bände mit Kurzgeschichten. Kritiker und Kollegen sind sich einig: Sie hat das Genre der kleinen Erzählungen neu belebt und perfektioniert.
Munro habe "eine hohe Intensität in ihren Texten, sie kann auf 30 Seiten mehr sagen als andere Autoren auf 300", erläuterte Peter Englund, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie. Er lobte ihre stilistische Perfektion und ihre fantastische Melodie. Für ihre Wärme und ihr Mitgefühl wird Munro oft mit dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow verglichen.
"Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen."
Alice Munro
Alice Munro scheut keine Konflikte
Das Erzählen von Kurzgeschichten meistert sie wie kaum ein anderer Autor, vielleicht auch, weil sie immer nah an Munros eigenem Leben sind. Ihre Geschichten spielen häufig in Kleinstädten, in denen der Kampf um soziale Akzeptanz oft zu angespannten Beziehungen und moralischen Konflikten führt. Dabei beschreibt die Mutter von drei Kindern Generationskonflikte genauso wie gegensätzliche Lebensziele. Ihre Werke beinhalten alltägliche, aber entscheidende Momente, die existenzielle Fragen beleuchten. Oft geht es um Frauen - um Mütter und Töchter - im kanadischen Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und durch die schönen und traurigen Zeiten des Lebens mäandern.
"Schaut, was sie mit ihrer kleinen Geschichte ausrichten kann"
"Aus diesem kleinen Strom füllt Munro seit fünfzig Jahren ihre Arbeit", schreibt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. "Und genau diese Vertrautheit macht ihr Reifen als Künstlerin so atemberaubend sichtbar: Schaut, was sie mit nicht mehr als ihrer kleinen Geschichte ausrichten kann. Je öfter sie zu ihrem Thema zurückkehrt, desto mehr findet sie dort."
Mit dem Schreiben begann die Autorin aus Ontario bereits als Teenagerin. Gleich ihr erstes Werk "Dance of the Happy Shades" ("Tanz der seligen Geister", 1968) wurde preisgekrönt, weitere große Auszeichnungen wie der Man-Booker-Preis für internationale Literatur (2009) folgten.
Munros Werke auf Deutsch
Das Bettlermädchen: Geschichten von Flo und Rose
Aus dem Amerikan. übers. von Hildegard Petry.
Stuttgart: Klett-Cotta, 1981.
Originaltitel: Who Do You Think You Are?
Kleine Aussichten: ein Roman von Mädchen und Frauen
Die Jupitermonde: Erzählungen
Der Mond über der Eisbahn: Liebesgeschichten
Glaubst du, es war Liebe?: Erzählungen
Offene Geheimnisse: Erzählungen
Die Liebe einer Frau: drei Erzählungen und ein kurzer Roman
Der Traum meiner Mutter: Erzählungen
Himmel und Hölle: neun Erzählungen
Tricks: acht Erzählungen
Wozu wollen Sie das wissen?: elf Erzählungen
Der Bär kletterte über den Berg: drei Dreiecksgeschichten
Tanz der seligen Geister: fünfzehn Erzählungen
Zu viel Glück: zehn Erzählungen
Was ich dir schon immer sagen wollte : dreizehn Erzählungen
Liebes Leben: vierzehn Erzählungen
"Es gibt so viele davon"
Schon vor Jahren habe ihr Verleger ihr gesagt, sie sei Favoritin für den Literaturnobelpreis. Jetzt, wo sie eigentlich gar keine aktive Schrifstellerin mehr ist, hat sie ihn bekommen. "Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben", meinte sie im Sommer zu einer kanadischen Zeitung. "Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt." Enttäuschten Fans riet Munro kurzerhand, ihre bisher veröffentlichten Bücher nochmal zu lesen. "Es gibt so viele davon." Zuletzt war 2012 ihr Band "Dear Life" erschienen.
Biografie
Das mühsame Geschäft mit den Kurzgeschichten
Seltenheitswert
Alice Munro ist erst die 13. Frau, die mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt ausgezeichnet wird. "Kann das sein? Das ist ja unglaublich! Das macht mich noch glücklicher, dass ich diesen Preis bekommen habe. Für uns als Frauen", meinte Munro, als sie von ihrer Auszeichnung erfuhr.
Nach zwanzig Jahren geht der Literaturnobelpreis jetzt wieder nach Nordamerika, nach Kanada zum ersten Mal.
Munro hat sich oft mit dem Schreiben und ihren Veröffentlichungen gequält, mied den Literaturbetrieb, wo es nur ging, noch heute gibt sie selten Interviews. Letztlich hat sie sich aber durchgebissen. Kurzgeschichten seien ein mühsames Geschäft, klagt die Schriftstellerin. "Die Literaturkritik betrachtet Kurzgeschichten noch immer als eine Art Übungsform für den Roman, als mindere Disziplin jedenfalls, und ich habe das lange selber geglaubt." Und sie gibt offen zu: "Was habe ich mich gequält bei Versuchen, einen Roman zu schreiben! Bis ich irgendwann realisiert habe, dass die Kurzgeschichte die mir gemäße Form des Schreibens ist."
"Dieses Buch ist so gut, dass ich hier gar nicht darüber sprechen will."
US-Schriftsteller Jonathan Franzen über den Erzählband 'Tricks'
Ihr Kollege Jonathan Franzen gehört zu Munros prominenten Fans. Er meinte zu ihrem 2006 veröffentlichten Erzählband "Tricks": "Dieses Buch ist so gut, dass ich hier gar nicht darüber sprechen will. Zitate oder eine Zusammenfassung können dem Buch nicht gerecht werden. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man es liest. Lest Munro!" Mit der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood ist Munro eng befreundet. 2006 erzählte Alice Munro, dass sie sich einmal pro Woche in ihrem 3.000-Einwohner-Städtchen Clinton treffen und immer am selben Tisch sitzen. Atwood, die selbst zum erweiterten Kreis der Favoriten gehörte, twitterte nach der Bekanntgabe: "Huurra! Alice Munro gewinnt den Nobelpreis für Literatur."
"Es ist wundervoll. Es ist so überraschend und so wunderbar. Ich wusste lange nicht mal, dass ich bei denen auf der Liste stand. Das habe ich erst gestern erfahren."
Alice Munro nach der Bekanntgabe. Ihre Tochter hatte davon zuerst erfahren, ihre Mutter angerufen - und geweckt.
"Das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung"
Literaturnobelpreise seit 1995
2012: Mo Yan
2011: Tomas Tranströmer
2010: Mario Vargas Llosa
2009: Herta Müller
2008: J.M.G. Le Clézio
2007: Doris Lessing
2006: Orhan Pamuk
2005: Harold Pinter
2004: Elfriede Jelinek
2003: J.M. Coetzee
2002: Imre Kertész
2001: V.S. Naipaul
2000: Gao Xingjian
1999: Günter Grass
1998: José Saramago
1997: Dario Fo
1996: Wislawa Szymborska
1995: Seamus Heaney
Nach dem Willen Alfred Nobels soll den Nobelpreis für Literatur jedes Jahr derjenige erhalten, "der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat". Das Werk soll von hohem literarischen Rang sein und dem Wohl der Menschheit dienen.
Die Preisträger werden vom Nobelpreis-Komitee am Karolinska-Institut in Stockholm bekannt gegeben. Jeder der Nobelpreise ist mit acht Millionen Schwedischen Kronen, fast 925.000 Euro, dotiert. Die Preisträger eines Faches teilen sich die Summe. Die Nobelpreise werden am 10. Dezember überreicht.
Deutschsprachige Literaturnobelpreisträger
Hintergrund
Wie schafft es die 18-köpfige Jury, sich auf ein Werk zu einigen? Nobels Maßgabe, der Preis solle an ein "in idealer Weise herausragendes Werk" verliehen werden, ließ und lässt einigen Deutungsspielraum. Dennoch gilt der Literatur-Preis als der bedeutendste unter allen Nobelpreisen.