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Goethes "Faust" Analyse: So erschließt man sich den "Faust"

Wie analysiert man ein Drama? Machen wir den Versuch und starten wir mit "Faust". Hier einige Tipps, die durchaus auch für andere Werke einsetzbar sind. Wir gehen in drei Schritten vor.

Stand: 31.03.2015 | Archiv

Goethes Faust: Textanalyse des Faust I

Im Mittelpunkt dieser Lektion steht die Analyse und Interpretation dramatischer Texte. Als Beispiel soll Goethes "Faust" Schritt für Schritt analysiert werden. Am besten, du hast ein Exemplar des Buches bei der Hand und kannst die Schritte mitmachen.

Erste Analyseschritte:

zur Infografik Übersicht Grundformen des Dramas

Hier eine kurze chronologische Übersicht (oben = frühere; unten = spätere Dramenformen) verschiedener Ausprägungen der Komödien und Tragödien im Laufe der Geschichte. Angefangen bei den alten Griechen, über Shakespeare und ... [mehr]

Mach dir – sofern möglich – schon vor der Lektüre bewusst, um welchen Typus von Drama beziehungsweise dramatischem Text es sich handelt: Eine Tragödie? Eine Komödie? Welche konkrete Einzelform liegt vor: Ein bürgerliches Trauerspiel? Eine Form des epischen Theaters? etc. Die Grafik zeigt dir Grundformen und einzelne Ausprägungen im Überblick.

Tipps zum Dramentypus - Hinweise ...

1. ... im Untertitel

Oft verweist der Untertitel auf den Dramentyp. Beispiel "Kabale und Liebe (Titel) – ein bürgerliches Trauerspiel (Untertitel)". So solltest du dir beim Blick auf das Titelblatt folgende Fragen stellen:
- Welche Rückschlüsse lassen sich aus Titel und Untertitel auf die Dramenform ziehen?
- Welchen Inhalt erwartest du vor diesem Hintergrund?
Informiere dich über den Inhalt des Dramas und überprüfe, inwiefern die im Titel angekündigte Dramenform zum Inhalt des Dramas passt.

2. ... im Personenverzeichnis

Wichtige Informationen zum Dramentyp kann das Verzeichnis der Personen, der dramatis personae liefern, sofern es eines gibt.
Als Beispiel hier das Personenverzeichnis zu dem klassischen antiken Drama "Antigone" des griechischen Dichters Sophokles. Das Personenverzeichnis macht deutlich, dass das Drama ganz im Sinne der klassischen aristotelischen Dramentheorie gestaltet ist, denn die Hauptfiguren bestehen nur aus Mitgliedern der Königsfamilie oder des Adels. Zudem gibt es, wie im klassischen antiken Drama üblich, einen Chor.
Sophokles, "Antigone" (442 v.Chr.)
Personen
Antigone, Tochter und Schwester von Ödipus, Tochter und Enkelin von Iokaste
Ismene, Antigones Schwester
Kreon, König von Theben, Antigones Onkel, Bruder von Iokaste
Haimon, Antigones Verlobter, Sohn von Kreon und Eurydike
Teiresias, Seher
Eurydike, Kreons Frau
Wächter
Erster Bote
Zweiter Bote
Chor
, die Ältesten der Stadt Theben, 15 Männer, darunter ein Chorführer

3. ... aus dem Handlungsgeschehen

Deutliche Hinweise zum Dramentyp liefert natürlich der Handlungsverlauf. Dabei kann man sich auch am Modell nach Gustav Freytag orientieren. Wenn du vor diesem Hintergrund einen Blick auf Friedrich Schillers "Kabale und Liebe" wirfst, wird schnell klar, dass sich die im Titel angekündigte Tragödie im Handlungsverlauf bestätigt. Im 1. Akt erfolgt die Exposition, also eine Einführung. Im 2. Akt folgt das erregende Moment, im 3. Akt der Höhepunkt, ehe im 4. Akt die Tragödie ihren Verlauf nimmt, um im 5. Akt in der Katastrophe zu münden.

4. ... aus der Form

Auch die Form beziehungsweise der Dramenaufbau liefern deutliche Hinweise zum Dramentyp. Sie hängen zumeist mit der Epoche zusammen, in der ein Stück entstanden ist. Du kannst dir zum Verständnis das Modell von Volker Klotz ansehen, der zwei Grundformen unterscheidet: die auf Aristoteles zurückgehende geschlossene und die offene Form des Theaters, die als nicht-aristotelisches Theater bezeichnet wird und durch das epische Theater wichtige Impulse bekommen hat.


Beginnen wir mit dem Titelblatt

Sehen wir es uns genau an:

Das Titelblatt

Titel: Faust. Eine Tragödie.
Autor: Goethe

Bei späteren Ausgaben, zum Beispiel auch bei der Ausgabe des Reclam-Verlags steht:
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
Titel: Faust. Der Tragödie erster Teil

Bei beiden Titeln wird klar: Es geht um die Figur Faust und seine Geschichte wird nicht gut enden. Ein Mensch wird scheitern, denn es handelt sich um eine Tragödie, um ein tragisches Geschehen. Ein edler Mensch wird scheitern, so viel steht fest.

Bei der späteren Ausgabe wird auch deutlich, dass dies nur der erste Teil ist – das bedeutet, die Geschichte wird nicht ganz zu Ende erzählt. Goethe kündigt damit mindestens noch einen weiteren Teil an.

Zudem erfahren wir auf dem Titelblatt: Das Werk ist von Goethe und es ist in Tübingen im Jahr 1808 erschienen.

Die Figuren

Hinweise geben auch die Figuren, die in einem Stück vorkommen. Viele Stücke enthalten zu Beginn eine Liste der Personen. Bei "Faust" ist diese nicht in allen Ausgaben enthalten. Fehlt die Liste, kann man sich auch selbst eine Personenliste zum Drama erstellen. Sie kann helfen, einen Überblick zu wahren.
Im Fall von "Faust I." würde sie wie folgt aussehen:

Dr. Heinrich Faust, ein Gelehrter
Mephistopheles (Mephisto), Teufel
Margarete, genannt Gretchen, ein junges Mädchen
Marthe Schwerdtlein, Gretchens Nachbarin
Wagner, Fausts Famulus (seine studentische Hilfskraft)
Valentin, Gretchens Bruder
Hexe
Schüler
Frosch, Brander, Siebel, Altmayer, "lustige Gesellen" in Auerbachs Keller
Lieschen, eine Bekannte Gretchens
Direktor, ein Theaterdirektor
Dichter
Lustige Person, ein Schauspieler
Raphael, Gabriel und Michael, drei Erzengel
Der Herr, Gott
Geist, Erdgeist

Außerdem: Chor der Engel, Chor der Weiber, Chor der Jünger, Spaziergänger aller Art, Bauern, Geister, Hexentiere, Böser Geist, Walpurgisnacht-Figuren, Stimme von oben, ein Pudel, Meerkatzen der Hexe.

Die ersten drei sind die wichtigsten: 
Faust, Mephistopheles der Teufel und Margarete, das sind die Schlüsselfiguren. Ein Gelehrter und der Teufel – hier lässt sich schon ein Konflikt erahnen. Auch ein älterer Gelehrter und ein junges Mädchen ist ein ungewöhnliches Zusammentreffen, auch hier kann man einen Konflikt erwarten. 

Die anderen Figuren spielen natürlich auch eine Rolle und helfen dabei, die Geschichte voranzutreiben – aber sie sind weitaus weniger wichtig. Dann gibt es Figuren wie:
die Hexe, drei Erzengel, Der Herr, Geist und Erdgeist

Es geht also nicht nur um menschliche Dinge, sondern auch um fantastische oder sogar himmlische. Dann kommen noch ein Theaterdirektor, ein Dichter und eine lustige Person – ein Schauspieler – vor. Sonderbar? Schon hier kann man vermuten, dass auch Theaterfragen behandelt werden.

2. Schritt: Wir informieren uns über den Aufbau und Inhalt

Modell nach Freytag

Vergegenwärtige dir nun nochmals das Handlungsgeschehen des Dramas und versuche, die Szenen in dem Modell nach Freytag (oder einer abgewandelten beziehungsweise auf das Drama angepassten Form zu verorten. Hier nochmals das Schema.

Wie fängt das Stück an? Da lernt man meistens die Hauptfiguren kennen. Aber bei "Faust" ist das ganz anders. Das Stück fängt dreimal an, mit:

  • "Zueignung", einem Gedicht: Es soll dem Zuschauer/Leser die Situation des Dichters nahebringen.
  • "Vorspiel auf dem Theater": Ein Gespräch zwischen Theaterdirektor, Dichter und Schauspieler. Damit wird das Theaterstück als Kunstprodukt dargestellt, noch bevor es überhaupt angefangen hat. Was das soll? Wahrscheinlich will der Dichter auf diese Weise dem Zuschauer deutlich machen: Es gibt einen anderen Blick auf das Geschehen.
  • "Prolog im Himmel": Auch der Prolog ist der eigentlichen Tragödie des Faust vorangestellt. Der Prolog beginnt mit dem Gesang der Erzengel Raphael, Gabriel und Michael. Im anschließenden Gespräch zwischen Gott und Mephisto heißt es:

"Der Herr: Kennst du den Faust?
Mephistopheles: Den Doktor?
Der Herr: Meinen Knecht!"

'Faust. Der Tragödie erster Teil, Prolog im Himmel', Johann Wolfgang von Goethe

Mephistopheles hält nicht viel von den Menschen, Gott dagegen hat ein positives Menschenbild.

"Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst."

'Faust. Der Tragödie erster Teil, Prolog im Himmel', Johann Wolfgang von Goethe

Auch wenn der Mensch manchmal auf Abwege geraten mag: Er kann immer auf seinen Weg zurückfinden.

Ein dreifacher Anfang – das ist zunächst rätselhaft. Warum wählt Goethe diesen langwierigen Einstieg? Goethe hatte zentrale Teile der Geschichte seines berühmten Dramas schon 1790 fertiggestellt – und dann kam das Schreiben für viele Jahre ins Stocken. Der Dichter steckte in einer Krise, er wusste nicht weiter. Man kann diesen komplizierten Einstieg als eine Art Krisenbewältigung verstehen. Als einen sehr persönlichen Einstieg. Und der Prolog im Himmel soll zeigen, dass alles, was dort im Irdischen geschieht, schon im Himmel ein Vorspiel hat. Die Tragödie ist nicht aufzuhalten.

Tragödien

Genau genommen enthält das Drama "Faust" sogar zwei Tragödien.

  • Zunächst ist da die sogenannte Gelehrtentragödie: der alternde Faust verzweifelt als Wissenschaftler an den Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Er bricht einen Selbstmordversuch erst im letzten Augenblick ab. Am Ende der Gelehrtentragödie steht Fausts Pakt mit dem Teufel.
  • Dann folgt die sogenannte Gretchentragödie, in der Faust das Gretchen umwirbt und verführt, um sie dann auf Einwirken Mephistos zu verlassen. In ihrer Verzweiflung tötet Gretchen ihr neugeborenes Kind und landet im Kerker, wo sie auf den Tod wartet. Und in beiden Tragödien ist Faust schuldig.

Faust und Mephisto – eigentlich zwei völlig gegensätzliche Figuren – und doch verbrüdern sie sich, sogar in einem in Blut geschriebenen Pakt. Und schließlich kommt es zum verhängnisvollen Wendepunkt.

Szene Wald und Höhle (Ausschnitt)

Szene aus "Faust"

Goethes Faust: Szene: Wald und Höhle

Mephisto stachelt Faust an, sich endlich Gretchen zuzuwenden, er weckt seine Begierde. Mit der Entscheidung von Faust, das Gretchen tatsächlich zu verführen, beginnt der Weg ins Verderben.
Gretchens letzte Worte an Faust, als er sie im Kerker aufsucht, um sie mit sich zu nehmen:

"Heinrich! Mir graut's vor dir."

Margarete, Szene Kerker, 'Faust I', Johann Wolfgang von Goethe

Beispiel für eine kurze inhaltliche Zusammenfassung

Eingebettet in einen, das Handlungsgeschehen einleitenden, "Prolog im Himmel", in dem der Herr und Mephistopheles, Gott und Teufel (in Anlehnung an die alttestamentliche Hiob-Geschichte) über Faust eine Abmachung treffen, entwickelt sich ein zweifaches tragisches Handlungsgeschehen:
1. Zunächst steht in der sogenannten Gelehrtentragödie der alternde Faust im Zentrum. Als Wissenschaftler verzweifelt er an den Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Einen Selbstmordversuch bricht er erst im letzten Augenblick ab. Am Ende der Gelehrtentragödie steht Fausts Pakt mit dem Teufel in Gestalt des Mephistopheles. Als Lohn winkt Glück. Der Preis: der Verlust der eigenen Seele. 
2. Es folgt die sogenannte Gretchentragödie: Nach seinem Pakt mit Mephistopheles ist Faust auf magische Weise verjüngt. Er begegnet einem jungen Mädchen, Gretchen. Er umwirbt und verführt sie, um sie dann auf Einwirken Mephistos zu verlassen. Er ahnt nicht, dass Gretchen von ihm schwanger wird. In ihrer Verzweiflung tötet Gretchen ihr neugeborenes Kind und landet nach der Entdeckung der Tat im Kerker, wo sie auf den Tod wartet. Einen Rettungsversuch Fausts lehnt Gretchen aus moralischen Gründen ab.

3. Schritt: Eine Szene genau anschauen und interpretieren

Einen dramatischen Text zu interpretieren, bedeutet, sich einzelne Textpassagen sehr genau anzuschauen. Aus diesen Analyseschritten kann man dann eine zusammenhängende Deutung entwickeln. Dazu ist es hilfreich, sich wichtige Textstellen anzustreichen oder farblich zu markieren.

Dabei helfen die drei Schlüsselfragen der Interpretation

Was wird gesagt?
Wie wird es gesagt?
Warum wird es gesagt?

Ein Beispiel: Die Szene "Straße" aus "Faust"

Faust. Margarete vorübergehend.
Faust:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit anzutragen?
Margarete:
Bin weder Fräulein, weder schön,
kann ungeleitet nach Hause gehn. (Sie macht sich los und ab.)
Faust:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön!
So etwas hab' ich nie gesehn.

Schauen wir uns den Text genau an:

Faust:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen…
Mein – ganz schön frech.  Das ist ein Angebot – du solltest zu mir gehören. 
Schön – Faust sagt hier ganz klar, dass ihm Margarete gefällt. 
Und Fräulein: Hier zeigt Faust, dass er keinen Standesunterschied sehen will. Doch dann rudert er wieder zurück:
Das "darf" und das "wagen" erwecken den Eindruck von Höflichkeit. Auch die Frageform unterstreicht diese Wirkung.

Margarete:
Bin weder Fräulein, weder schön, – Kein "Ich" – Margarete will Distanz zeigen. 
Mit der Verneinung der Bezeichnung Fräulein will sie deutlich machen, dass sie ein einfaches Mädchen ist, dem eine solche Bezeichnung aus Standesgründen nicht zusteht.
Dass Margarete auch noch das "schön" zurückweist, ist Ausdruck von Bescheidenheit – oder auch von Entschiedenheit. Bescheidenheit, weil sie deutlich macht, dass sie sich auf Ihr Äußeres nichts einbildet. Entschiedenheit, weil sie sich durch Schmeicheleien nicht so ohne Weiteres beeindrucken lässt.

Margarete setzt das auch gleich in die Tat um – "Sie macht sich los", so die Anweisung im Text. Faust fragt sie also nicht nur, ob er ihr seinen Arm als Geleit anbieten darf, sondern er fasst sie sofort an – ziemlich unverschämt.  

Faust:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön! Faust ruft beim Anblick von Margarete den Himmel an. Eigentlich hat er sich dem Mädchen ja sehr forsch und mit klaren Absichten genähert. Nun aber, nach der ersten Begegnung, scheint Faust wie verwandelt. Er besinnt sich, hält inne und ist emotional berührt.

Das sind nur wenige Zeilen, doch darin ist ganz viel zu erkennen, über die Personen, ihre Absichten, ihre Konflikte und – jedes einzelne Wort ist wichtig.


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