Tatort Gehirn Wie funktionieren Erinnern und Vergessen?

Von: Elke Hardegger

Stand: 17.06.2022

Auf Erinnerungen ist kein Verlass. Täglich nehmen wir jede Menge an Infos über unsere Sinne auf, die die Nervenzellen im Gehirn dann verarbeiten, aussortieren oder speichern. Dabei passieren jedoch Fehler. Können wir sie vermeiden und unser Gedächtnis verbessern?

Wolken und Sonne spiegeln sich auf dem Kopf einer Frau. Unser Gedächtnis unterscheidet zwischen traumatischen und negativen Erinnerungen? | Bild: picture-alliance/dpa/Zoonar | Max

Gehirn: So speichern wir Informationen

Ein Querschnitt des Gehirns mit Hippocampus blau und davor die Amygdala.  | Bild: picture-alliance/ BSIP | JACOPIN

Der Hippocampus (blau) ist beteiligt, wenn das Gehirn Informationen speichert. Davor ist die Amygdala, die bei Angst und Furcht reagiert.

Unser Gehirn ist ein gigantischer Arbeitsspeicher. Er ist immer aktiv und arbeitet auf Hochtouren. Alles, was ihr täglich erlebt oder lernt, wird in den mehr als 85 Milliarden Nervenzellen im Gehirn verteilt und gespeichert. Mit einem Reiz aktivieren wir das ganze Netz an Nervenzellen im Gehirn. Diese elektrischen Impulse kann man sogar in bildgebenden Verfahren messen. Die Schaltzentrale für unser Gedächtnis ist der Hippocampus. Dort werden alle Sinnesreize und Erlebnisse gefiltert und an die verschiedenen Hirnregionen geschickt. Informationen, die unser Gedächtnis möglichst lange behalten möchte, werden im Langzeitgedächtnis abgelegt. Sind vor allem Emotionen beteiligt, dann besteht die Chance, dass wir diese Sinneseindrücke besonders lange im Gedächtnis behalten: Emotionale Momente werden über das limbische System gefiltert, das aus Hippocampus und Amygdala besteht. Deshalb können wir uns so gut an die erste große Liebe erinnern. Unser Gehirn wählt gezielt aus, was es wirklich behalten möchte.

Video: Wie tickt das Gehirn?

Video: Was geschieht im Gehirn, wenn wir lernen?

Gedächtnis: Wo werden Erinnerungen gespeichert?

Wenn wir uns erinnern, dann aktivieren wir gespeicherte Informationen aus unserem Gedächtnis . Erinnerungen werden in den verschiedenen Regionen des Gedächtnisses abgelegt. Im prozedualen Gedächtnis ist der Platz für Fähigkeiten, wie Fahrrad- oder Autofahren - motorisches Verhalten, das wir einmal gelernt haben und dann automatisch ausführen können. Andere Erinnerungen, wie Faktenwissen und persönliche Erlebnisse, nehmen wir viel bewusster war. Sie werden im episodischen Gedächtnis gespeichert.

Video: Wie sich das Gehirn entwickelt

Video: Entwicklung des Gehirns im Embryo

Experte: Wofür steht unser Gedächtnis?

"Gedächtnis ist nicht dafür da, dass man sich zurücklehnt, und sich an Ereignisse in allen Details von vorne bis hinten erinnert. Sondern Gedächtnis ist dafür da, aus Erfahrung zu lernen."

Prof. Dr. Nikolai Axmacher, Institut für Kognitive Neurowissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Erinnern: Warum reagiert unser Gehirn anders auf traumatische Ereignisse?

An schöne Erlebnisse erinnern wir uns gerne und am liebsten würden wir sie nicht vergessen. Doch was geschieht mit negativen und traumatischen Erinnerungen? Warum können wir sie so schlecht vergessen, auch wenn wir das gerne möchten? Besonders traumatische Erlebnisse tauchen plötzlich auf, ohne einen bestimmten Zusammenhang mit dem Erlebten. Prof. Dr. Nikolai Axmacher von der Ruhr-Universität Bochum forscht zu posttraumatischen Belastungsstörungen und erklärt, dass besonders belastende Ereignisse in unserem Gehirn anders gespeichert werden. Die Schaltzentrale des Gedächtnisses, der Hippocampus, wird durch den Stress außer Gefecht gesetzt. Die Amygdala übernimmt die Verarbeitung, denn sie reagiert auf Angst und Furcht, sagt Nikolai Axmacher. Negative Erinnerungen können wir analysieren, das Erlebte hinterfragen und von verschiedenen Perspektiven betrachten. Das hilft, um damit leichter umzugehen. Traumatische Erlebnisse verschwinden nicht, sie treten durch sogenannte Flashbacks unwillkürlich immer wieder auf. Nur eine Therapie kann hier helfen, das Erlebte in den richtigen biografischen Kontext einzuordnen. Mit dem Ziel, sich dann mit weniger Angst daran zu erinnern.

Anschauen: "Gut zu wissen"-Doku "Tatort Gehirn" und Tatort "Flash"

Wenn wir verstehen, wie Erinnern und Vergessen funktionieren, dann können zum Beispiel auch Therapien gegen das Vergessen bei Demenzerkrankungen viel erfolgreicher eingesetzt werden. Im Tatort-Krimi "Flash" werden diese Erinnerungen zum Thema der Geschichte. Die Münchner Kommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec) müssen einen Demenzerkrankten befragen, um einen Mordfall zu lösen. Die begleitende Gut zu wissen-Doku "Tatort Gehirn" (Erstausstrahlung 19.06.2022, 20:15 Uhr) hinterfragt, wie realistisch diese Ermittlungsmethoden sind.

Video: Tatort Gehirn - Demenzerkrankung

Prägung: Der Blick in Vergangenheit und Zukunft

Was ihr täglich erlebt und lernt, prägt eure Persönlichkeit. Die Basis dafür ist unser Gedächtnis. Bisherige Erfahrungen helfen uns, auf zukünftige Situationen besser zu reagieren. So können wir uns schnell entscheiden und handeln. Menschen mit Gedächtnisstörungen fällt der Blick in die Vergangenheit schwer, denn bestimmte Erinnerungen werden nicht mehr in ihrem Gedächtnis gespeichert. Sie können zum Beispiel eine Person, die sie gerade kennengelernt haben, kurz darauf nicht mehr wiedererkennen. Andererseits gelingt es ihnen, ein Instrument zu lernen, weil die Hirnregion für motorische Fähigkeiten noch funktioniert, aber an das Üben vom Vortag erinnern sie sich nicht mehr. Je nachdem, welche Hirnregion nicht mehr arbeitet, gehen Erinnerungen verloren.

Gedächtnis: Wenn Nicht-Vergessen zur Qual wird

Es gibt Menschen, die können sich an jeden Tag ihres Lebens erinnern: Wo sie waren, was sich ereignet hat - sie vergessen nichts. Das muss enorm anstrengend und belastend sein. Sie erinnern sich nicht an Fakten, aber detailgenau an autobiografische Erlebnisse. Vermutlich gibt es weltweit rund 60 Personen mit diesem sogenannten hyperthymestischen Syndrom (HSAM). Andreas Papassotiropoulos und sein Team von der Uni Basel vermuten schon lange, dass die Ursache dieses Nicht-Vergessens auf molekularer Ebene zu finden ist. Die Sequenzierung der DNA von Menschen mit hyperthymestischen Syndrom lieferte den Beweis: Ein Gen ist dafür verantwortlich, dass Vergessen an den Schnittstellen der Nervenzellen blockiert wird. Mit ihrer Grundlagenforschung liefern die Molekularwissenschaftler wichtige Erkenntnisse, die auch für die Entwicklung von Mediakamenten gegen Demenzerkrankungen hilfreich sind.

Experte: Warum Vergessen wichtig ist

"Das Gedächtnis muss triviale Informationen aussortieren, um richtig zu funktionieren."

Prof. Dr. Andreas Papassotiropoulos, Molekulare Neurowissenschaften Universität Basel

Lernen: Besser lernen unter Stress

Stellt euch vor, ihr sitzt in einem Bewerbungsgespräch. Euch gegenüber sitzen zwei Personen, die äußerst unfreundlich sind und nicht auf eure Worte reagieren. Purer Stress! Was passiert dabei in eurem Gehirn? Was nehmt ihr wahr und was speichert euer Gedächtnis ab? Forschende der Ruhr-Universität Bochum konnten mit dem sogenannten Trier-Social-Stress-Test herausfinden, wie unser Gehirn emotionale Ereignisse speichert und wann wir uns besonders gut daran erinnern. Sie beobachteten die Signalverarbeitung im Gehirn, während den Studienteilnehmern im Magnetresonanztomographen (MRT) einzelne Bilder aus der Situation gezeigt wurden. Die Kontrollgruppe hatte ein freundliches Setting, aber mit denselben Objekten im Raum.

Grafik Nervenzelle Übertragung an der Synapse | Bild: picture-alliance/dpa/Zoonar | Cigdem Simsek

Botenstoffe übertragen die Informationen von einer Nervenzelle zur anderen. In aufwühlenden Situationen blockieren sie die Übertragung.


Tatsächlich konnten die Wissenschaftler in den Hirnregionen der Kontrollgruppe erkennen, dass ihre Erinnerung an einzelne Objekte geringer war. Hingegen zeigten sich bei Probanden aus dem belastenden Setting bereits beim Betrachten einer Kaffeetasse erste Reaktionen.
An emotionale Erlebnisse erinnern wir uns wesentlich besser, betont Oliver T. Wolf, Leiter des Instituts für Neurowissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Mit seinem Team analysierte er vor allem die Gehirnaktivität in der Amygdala, der Region, die unter anderem für das emotionale Lernen wichtig ist. Bilder der unfreundlichen Prüfer und allein der Kaffeetasse auf dem Tisch lösten Reaktionen in verschiedenen Hirnregionen aus. Die gesamte Situation wurde detaillierter wahrgenommen und selbst die Kaffeetasse allein rief negative Erinnerungen hervor. Denn das Gehirn schüttet die Botenstoffen Noradrenalin und Cortisol aus. Durch diesen Stresszustand wird die Wahrnehmung schärfer und wir erinnern uns viel besser. Wird der Stress jedoch zu groß, dann blockieren die Botenstoffe, Informationen werden nicht mehr weitergeleitet und nicht miteinander verknüpft - wir erinnern uns noch weniger. Fakt ist: Ein wenig Stress lässt uns besser lernen, doch lernen unter Druck führt eher zum Gegenteil.

Brain Computer Interface: Mit Hirnchips Gedanken lesen

Der Blick ins Gehirn in Verbindung mit maschinellem Lernen gilt als medizinischer und technischer Fortschritt. Besonders Menschen mit körperlichen Einschränkungen hoffen, dass ihnen Gehirnimplantate helfen können. Allerdings sind es weltweit nur wenige Personen, die an den Studien teilnehmen und davon profitieren. Mit einer Gehirn-Computer-Schnittstelle, einem sogenannten Brain Computer Interface (BCI) schaffen es gelähmte Menschen, nur mit Gedankenkraft einen Roboterarm zu steuern, einen Cursor auf einem Computerbildschirm zu bewegen, oder ein Auto durch eine virtuelle Umgebung zu lenken. Nur mit einer Kopplung von Gehirn und Computer ist das möglich. Warum also nicht Gedächtnisinhalte mit Hirnchips auslesen und verbessern? Doch die Entwicklung ist nicht wirklich ausgereift und lange nicht alltagstauglich. Zudem ist der invasive Eingriff, bei dem Elektroden ins Gehirn gepflanzt werden, nicht ungefährlich.

Entwicklungen der Gehirn-Computer-Schnittstelle

Im Jahr 2004 wurde erstmals einem Mann, der nach einem Messerstich vollkommen gelähmt war, eine Elektrode ins Gehirn implantiert. Die erste Studie leitete Leigh Hochberg, Neurowissenschaftler an der Brown University Rhode Island und Intensivmediziner am Massachusetts General Hospital in Boston. Jahrzehntelange Beobachtungen von Hirnaktivitäten bei Affen schufen die Grundlage, um zu verstehen, wie die Signale von Bewegungen im Gehirn übertragen werden. Inzwischen lassen sich neuronale Aktivitäten viel leichter über Algorithmen entschlüsseln, betont der Neurowissenschaftler Leigh Hochberg. Die BCIs von heute bieten ein viel breiteres Spektrum an Fähigkeiten, da die Elektroden in verschiedene Hirnregionen implantiert werden. Die Entwicklung von Funkchips als Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer ist der nächste Schritt der medizin-technischen Entwicklungen von BCIs.

Wollen wir unsere Gedanken veröffentlichen?

Noch sind die Implantate und die Anwendung mit hohem technischen und personellen Aufwand verbunden und nicht alltagstauglich. Doch die Zukunft dieser Hirnchips ist vielversprechend: Elon Musk, dem nicht nur Tesla, sondern auch die Firma Neurolink gehört, arbeitet zum Beispiel intensiv an der Entwicklung von BCIs. "Nerven sind wie elektronische Schaltungen. Man braucht viel Elektronik, um ein elektronisches Problem zu lösen", sagt Musk.
Die Hirnsignale für BCIs müssen jedoch mit Referenzmustern verglichen werden. Dafür sind Daten notwendig. Aber unser Gehirn mit all seinen Schaltkreisen und Verknüpfungen ist sehr komplex. Das Gedächtnis herunterzuladen, Erinnerungen aufzuzeichnen, womöglich noch zu verändern, klingt nach Science-Fiction. Für weitere Entwicklungen sind die Wissenschaftler und Ingenieure aber auf Daten angewiesen. Doch wer möchte sich wirklich so genau in seine Gedanken blicken lassen?

Gedächtnisleistung ohne Hirnchips verbessern

Der Versuch, das Gehirn mit Chips zu tunen, steht vermutlich erst am Anfang. Gleichwohl gibt es bereits nicht-medizinische BCIs zur Fitnesssteigerung, zum Abbau von Stress, oder als Hilfe gegen Konzentrationsprobleme. Diese BCIs steuern kein Computersystem, aber sie arbeiten mit Gehirnströmen oder senden elektrische Impulse.
Wir können die elektrische Aktivität unserer Nervenzellen messen und therapeutisch nutzen. Zum Beispiel mit der Neurofeedback-Methode. Mithilfe von Tönen oder Bildern kann diese Methode bei ADHS, einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung, eine bessere Konzentration fördern. Immer mehr Studien belegen den erfolgreichen Einsatz von Neurofeedback. Die Psychologin Dr. Susanne Karch forscht am Klinikum der Universität München zu Neurofeedback. Doch sie warnt vor Gadgets für den Heimgebrauch, die mit elektrischen Impulsen arbeiten, denn die Nebenwirkungen für ein gesundes Gehirn seien nicht unerheblich.

Lernen: So könnt ihr euer Gedächtnis unterstützen

Wir können unser Gehirn täglich trainieren und fit halten. Lernprogramme dazu findet ihr reichlich. Doch euer Gedächtnis mit Gehirnjogging auf Trab halten, das klappt doch nicht so gut, wie bislang vermutet, betonen der Magdeburger Wissenschaftler Emrah Düzel und seine Kollegin Anne Maass. Bei ihren Forschungen mit sogenannten Super-Agern konnten sie feststellen, dass viel Bewegung, ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung vor Demenzerkrankungen und vor Vergessen schützen können. Diese einfachen Mitteln sorgen für eine bessere Durchblutung des Gehirns und für ein besseres Gedächtnis.
Wissenschafter der TU Dresden konnten in Tierexperimenten mit Mäusen nachweisen, dass eine Umgebung mit viel Anregung das Gedächtnis jung hält. Prof. Gerd Kempermann und sein Team erklären diesen Zusammenhang mit aktiven Genen, die Nervenzellen im Gedächtnis erneuern und Verbindungen knüpfen. Ihre Beobachtungen auf Menschen zu übertragen gelingt nicht ganz, aber die Neurowissenschaftler vermuten, dass es ähnlich wirkt, wenn wir immer wieder Neues lernen. Damit können wir unser Gedächtnis fit halten. Also macht am besten jetzt gleich etwas, das ihr noch nie zuvor gemacht habt.

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