Prokrastination So könnt ihr eure Aufschieberitis überwinden

Von: Sylvaine von Liebe

Stand: 03.09.2024

To-dos auf den letzten Drücker erledigen - das kennt und macht fast jeder. Wer aber ständig Aufgaben vor sich herschiebt, prokrastiniert. An welchen Merkmalen ihr Prokrastination erkennt, welche Ursachen dahinter stecken und was ihr gegen Aufschieberitis tun könnt.

Frau am Fußboden mit Laptop schaut auf einen kleinen Hund, der neben ihr steht. Was ist der Grund für Prokrastination? Häufig prokrastinieren Menschen, denen ein strukturierter Tagesablauf fehlt. Es ist aber nicht die einzige Ursache. | Bild: picture alliance / Westend61 | Rainer Berg

Zahlen: So verbreitet ist Prokrastination

Hand aufs Herz: Hättet ihr nicht auch schon längst die Belege für eure Steuererklärung sortieren wollen? Oder besser müssen, weil sie längst überfällig ist? Damit seid ihr nicht allein: Nur zwei Prozent der Menschen behaupten von sich, niemals Dinge aufzuschieben, so eine Umfrage der Universität Münster unter Studierenden aus dem Jahr 2019. In der Altersgruppe von 14 bis 29 Jahren prokrastinieren Männer häufiger als Frauen, in allen anderen Altersgruppen prokrastinieren Männer und Frauen gleich viel. Zu den Aufgaben, die wir am liebsten vor uns herschieben, zählen neben der Steuererklärung übrigens Hausarbeiten wie Aufräumen, Wischen oder Fensterputzen sowie das Vereinbaren von Arztterminen. So das Ergebnis einer im September 2022 veröffentlichten Umfrage.

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Prokrastination: So überwindet ihr eure Aufschieberitis

Definition und Merkmale: Was ist Prokrastination?

Aufgaben auf morgen verschieben - ist das Faulheit, Aufschieberitis oder Prokrastination? Das kommt tatsächlich darauf an:

"Prokrastination ist das gewohnheitsmäßige Aufschieben von geplanten Aufgaben, die für persönliche Ziele wichtig sind und die eigentlich in einer absehbaren Zeit zu Ende gebracht werden müssen", erklärt Fred Rist, Seniorprofessor und gemeinsam mit Diplom Psychologin Margarita Engberding ehemaliger Leiter der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster.

Meist füllt derjenige, der prokrastiniert die Zeit, die er eigentlich für die anstehende Aufgabe aufwenden sollte, mit anderen Tätigkeiten. Diese sogenannten "Ersatztätigkeiten" seien bei den Betroffenen laut Rist höchst unterschiedlich und durchaus nicht nur angenehm - im Vergleich zu der aufgeschobenen Arbeit für den Prokrastinierenden aber erst einmal weniger unangenehm. So kann sogar das Putzen der Wohnung als Ersatztätigkeit dienen. Letztlich sucht der chronisch Aufschiebende immer nach einem Grund, die zu erledigende Tätigkeit gerade jetzt nicht anpacken zu können. Trotzdem kann die eigentlich anstehende Arbeit den Betroffenen gedanklich so sehr umtreiben, dass er sich permanent unter Druck fühlt und überhaupt keine Freude mehr an seiner Freizeit hat.

Und woher kommt das Wort Prokrastination? Die Bezeichnung Prokrastination ist abgeleitet vom lateinischen Substantiv "procrastinatio", das sich wiederum aus den beiden Bestandteilem "pro" und "crastinum" zusammensetzt und so viel bedeutet wie "Vertagung auf morgen".

Video: Sechs Fakten über Prokrastination

Prokrastination: Was ihr darüber wissen müsst

Kurz erklärt: der Unterschied zwischen bloßem Aufschieben und Prokrastinieren

"Ein entscheidendes Merkmal von Prokrastination gegenüber dem bloßen Aufschieben ist: Der Aufschieber kommt zwar in Zeitdruck mit seiner zu erledigenden Tätigkeit, bringt sie aber einigermaßen zu Ende. Derjenige, der massiv prokrastiniert hingegen, erledigt sie mehr schlecht als recht nur auf den allerletzten Drücker. Oft kriegt er die Arbeit nur verspätet oder gar nicht mehr fertig und erleidet dadurch Nachteile."

Fred Rist, Prokrastinationsexperte

Prokrastination: die Unterschiede zu Faulheit und Task Paralysis

Prokrastinieren hat jedoch nichts mit Faulheit zu tun: "Jemand, der faul ist, hat nicht viel vor und fühlt sich wohl, wenn er nichts tut. Jemand, der unter Prokrastination leidet, fühlt sich hingegen gar nicht wohl. Seine Gedanken kreisen dauernd um die zu erledigende Aufgabe, auch wenn er versucht, sich abzulenken", erklärt der Psychologe und Psychotherapeut Fred Rist.

Task Paralysis, ein Begriff, der im Zusammenhang mit Prokrastination gelegentlich auftaucht, beschreibt hingegen eine besondere Situation der Blockade: Man sitzt vor einer Aufgabe passiv und wie gelähmt da, ohne damit richtig beginnen zu können. Dabei handelt es sich laut Rist um eine Variante von Prokrastination.

Video: Morgen, morgen, nur nicht heute - Die "Aufschieberitis"

Das hat noch Zeit: Warum wir manche Dinge vor uns herschieben

Ursachen und Entstehung: Was ist der Grund für Prokrastination?

Warum es Menschen gibt, die immer wieder Tätigkeiten extrem und sogar zum eigenen Nachteil aufschieben, darüber wisse man bislang wenig, sagt der Prokrastinationsexperte Fred Rist. "Betroffene haben oft einfach nicht gelernt, sich zu organisieren und schwierige oder unangenehme Aufgaben trotz Widerwillen anzugehen. Das Aufschieben und Nur-unter-Druck-Arbeiten ist bei vielen Betroffenen oft schon eine lange Gewohnheit geworden, die in bestimmten Anforderungssituationen dann wirklich zum Problem wird", erklärt der Psychologe. Allerdings gibt es auch Persönlichkeitseigenschaften und psychische Störungen, bei denen Prokrastination häufiger festgestellt wird. Beispiele dafür sind: Perfektionismus, Depressivität, Angst, ADHS und andere Beeinträchtigungen der Selbststeuerung, etwa der Ausdauer, fehlende Frustrationstoleranz und mangelndes Zeitmanagement. Doch auch die allgemeine Lebenseinstellung scheint ein Faktor zu sein. Im August 2024 veröffentlichten Forscher der Universität Tokio eine Studie, wonach Pessimisten besonders zur extremen Prokrastination neigen. Oder andersrum: Wer positiv in die Zukunft blickt, nimmt seine Aufgaben auch früher in Angriff. Mit Intelligenz habe Prokrastination wenig zu tun. Aber wer sehr gewissenhaft sei, neige weniger zur Prokrastination, erläutert Rist.

Für Manfred Beutel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, der ebenfalls viel über das Prokrastinieren forscht und mehrere Studien dazu geleitet hat, ist ein fehlender strukturierter Tagesablauf einer der wesentlichen Gründe, warum Menschen zur Prokrastination neigen.

Folgen: Prokrastination ist keine Krankheit, aber ...

Verzweifelte Frau mit Händen vor ihrem Gesicht sitzt vor einem aufgeklappten Laptop. Was ist Prokrastination? Prokrastination heißt: Aufgaben extrem aufzuschieben. Das frustriert uns. Depressionen sind nicht selten die Folge des Prokrastinierens.  | Bild: picture alliance / Westend61 | Markus Mielek

Prokrastination gilt nicht als Krankheit. Trotzdem hat das Prokrastinieren Folgen. Es kann zum Beispiel zu Depressionen führen.

Ist Prokrastinieren, das ständige Aufschieben, eine Krankheit? Nein, im Rahmen psychischer Diagnosen ist Prokrastination keine Krankheit. Trotzdem erleidet derjenige, der seine Aufgaben ständig extrem aufschiebt, oft Nachteile. Das haben auch Forscher der Universität Mainz in einer Untersuchung 2016 festgestellt: Prokrastinierer sind gestresster, haben häufiger Depressionen oder Angststörungen und leiden vermehrt unter Einsamkeit und Erschöpfung, so ihr Fazit. Zum gleichen Ergebnis kam auch eine Studie der Stockholmer Sophiahemmet-Universität aus dem Jahr 2023. Wer ständig aufschiebt, enttäuscht aber nicht nur sich und andere und läuft dadurch Gefahr, depressiv zu werden. Der notorische Aufschieber, der keine Aufgabe zu Ende bringt, riskiert bereits früh im Leben, keinen oder einen schlechteren Schulabschluss zu erhalten. Eine weitere Folge des Prokrastinierens ist daher: ein geringeres Einkommen gegenüber Nicht-Prokrastinierern beziehungsweise wirtschaftliche Schwierigkeiten. Das konnten sowohl das Team um Manfred Beutel von der Universität Mainz als auch die schwedischen Forscher mit ihren Studien belegen.

Video: Was Prokrastination mit Perfektionismus zu tun hat

Behandlung und Umgang: So könnt ihr Prokrastination überwinden

Frau vor dem Laptop schaut auf die Uhr. Wie gehe ich mit Prokrastination richtig um? Ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Prokrastination in der Ambulanz in Münster ist: die Begrenzung der Zeit für die zu erledigende Aufgabe. | Bild: picture alliance / Westend61 | Vira Simon

Ein Tipp gegen das Prokrastinieren: Setzt euch einen klaren zeitlichen Rahmen für die ungeliebte Aufgabe.

Um zu erfahren, ob ihr Prokrastinierer seid oder nur Aufschieber, könnt ihr zum Beispiel auf den Onlineseiten der Universität Münster einen Selbsttest durchführen. Dort werden euch Fragen zu eurem Aufschiebeverhalten und zu möglicher Depressivität und Aufmerksamkeitsproblemen gestellt. Im Gespräch mit Psychologen könnt ihr herausfinden, ob euch eine Therapie helfen könnte.

Die Mitarbeiter der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster sprechen von einem Training, um die Prokrastination zu überwinden. Vor allem drei Dinge seien dabei zu berücksichtigen: "Man lernt, mit der zu erledigenden Aufgabe pünktlich zu beginnen - etwa mithilfe eines klaren zeitlichen Vorsatzes und eines bestimmten, festgelegten Rituals, das man regelmäßig vor dem Beginn mit der Aufgabe ausführt", sagt Rist. Ebenfalls wichtig sei die Planung der Arbeitszeit, in der die Aufgabe erledigt sein müsse, sowie deren Strukturierung in machbare Teilschritte. "Es muss immer klar sein, was in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt erreicht werden soll", erklärt der Psychologe und Psychotherapeut.

Das Training, das die Prokrastionationsamubulanz anbietet, laufe in der Regel so ab: "Vor dem Training beginnen die Klienten damit, dass sie erstmal eine Woche lang notieren, wie viel sie an jedem Tag gearbeitet haben", beschreibt Rist den Ablauf der Behandlung in der Prokrastinationsambulanz in Münster. Eine bestimmte Trainingsvariante beginne dann zum Beispiel damit, dass im Durchschnitt nur diese Zeit täglich konzentriert gearbeitet werden darf. Erst, wenn das gut funktioniere, werde die Arbeitszeit schrittweise verlängert - je nachdem, wie konsequent und konzentriert inzwischen die geplante Zeit für die Arbeit genutzt wurde. "Das ist nicht durch ein paar Tipps einfach so zu erreichen. Das muss man lernen und üben", erklärt der Prokrastinationsexperte.

Video: Strategien gegen das Prokrastinieren

Planen von To-dos: So vermeidet ihr das Aufschieben von Aufgaben

  • Sortiert eure To-do-Liste nach Prioritäten.
  • Teilt euch große Aufgaben in kleinere auf.
  • Plant konkret, wann und wo ihr die Aufgabe erledigen wollt.
  • Richtet euch nach eurem Biorhythmus und erledigt Aufgaben zu einer Zeit, in der ihr euch am besten konzentrieren könnt, zum Beispiel abends oder früh am Morgen.
  • Vor dem Anfangen regelmäßig Rituale durchführen, zum Beispiel eine Tasse Tee trinken.
  • Fangt pünktlich zur geplanten Zeit an.
  • Lasst euch nicht ablenken.
  • Begrenzt eure Arbeitszeit - das macht euch effektiver.
  • Belohnt euch nach dem Abschluss eurer Tätigkeit mit etwas, das ihr euch schon vor Arbeitsbeginn überlegt.
  • Wenn die Aufschieberei nicht aufhört: Holt euch professionelle Hilfe.

Quelle: AOK

Aufschieberitis und Prokrastination: Sendungen, Quellen, weitere Infos