Humanes Genom Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts
2001 verkündeten Genetiker, das Erbgut des Menschen entziffert zu haben. Im Jahr 2022 hieß es, jetzt sei das Humanerbgut wirklich komplett entschlüsselt. Eine wissenschaftliche Sensation ist die Entschlüsselung des menschlichen Bauplans zweifellos, denn das Genom enthält alle vererbbaren Informationen des Lebens. Doch damit ist längst noch nicht Schluss in der Genom-Entschlüsselung.
Wissenschaft, reif fürs Kino: Die Kartierung der menschlichen DNA war zunächst einmal ein Wettlauf der Forscher um Ruhm und Ehre. Am Start: das von den USA staatlich geförderte Human Genome Project (HPG) sowie das von dem Genetiker Craig Venter gegründete Privatunternehmen Celera Genomics (das 2011 von Quest Diagnostics Products übernommen wurde).
Vom Forscherverein zum internationalen Genom-Projekt
Den Stein ins Rollen hatte 1988 die Gründung der Human Genome Organisation (HUGO) gebracht – ein Verein von Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen, der die Identifizierung aller Gene koordinieren sollte. Das eigentliche Human Genome Project nahm im September 1990 seine Arbeit auf, als ein öffentliches, vorwiegend amerikanisches Großforschungsprojekt. Schnell wurde daraus ein loser Verbund von Arbeitsgruppen aus mehr als 30 Ländern. Rund 60 Prozent übernahmen verschiedene Zentren in den USA. Auf britische Wissenschaftler entfiel ein Viertel der Aufgabe. An die verbleibenden Sequenzen machten sich vornehmlich Genomforscher aus Frankreich, Japan, China und Deutschland. Bis 2005 sollte die Arbeit erledigt werden, so der Plan. Die Gesamtkosten: rund 3 Milliarden Dollar.
Die Entschlüsselung des Humangenoms: eine Mammutaufgabe
Zwar besteht das menschliche Erbgut nur aus vier verschiedenen Grundbausteinen, den Nukleinbasen: Cytosin (C), Guanin (G), Adenin (A) und Thymin (T). Doch der DNA-Faden der 23 menschlichen Chromosome umfasst etwa 3,2 Milliarden Gen-Buchstaben. Sie bilden sozusagen die Software des Lebens. Als im Juni 2000 die "Arbeitsversion" des Humangenoms angekündigt und im Februar 2001 veröffentlicht wurde, zeigte sich: der "Text" der menschlichen DNA war unvorstellbar lang. Ausgeschrieben würde er etwa 3.000 Bücher füllen, jedes Buch 1.000 Seiten à 1.000 Buchstaben dick.
Wettlauf um die Entschlüsselung der Gene
In Craig Venters Labor analysierten riesige Rechnerkapazitäten zerlegte DNA-Schnipsel, um den Gen-Code des Menschen zu knacken.
Die gemeinsamen Anstrengungen der Wissenschaftler währten allerdings nicht lange. Der US-Wissenschaftler Craig Venter, der zunächst mit dem Forschungsprojekt kooperierte, kündigte 1998 an, das Genom mit seiner Firma Celera Genomics im Alleingang zu entschlüsseln. Er wandte eine viel schnellere, aber nach Auffassung vieler Wissenschaftler ungenauere und lückenhafte Technik, die sogenannte "Schrotschuss"-Methode, an. Dabei setzte der Wissenschaftler auf die Rechenkraft seiner Computer: Nicht mit Enzymen, sondern mit Ultraschall zerlegte er die DNA in Schnipsel, die anschließend mithilfe immenser Rechnerleistung analysiert und wieder zusammengesetzt wurden.
Ein Wettlauf begann: Wer sequenziert wie schnell wie viele Genabschnitte? Dabei hatte Celera den Vorteil, Zugang zu den Daten der Konkurrenz zu haben. Umgekehrt teilte Craig Venter seine Erkenntnisse nicht. Zum Schluss arbeiteten beide Seiten aber teilweise wieder zusammen. Im Juni 2000 präsentierten Celera Genomics und das Human Genome Project zusammen eine Rohversion des Erbguts.
Sequenzierung der Gene mit Happy End
Als die wissenschaftlich begutachteten Ergebnisse des HGP am 15. Februar 2001 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurden, war die Sensation perfekt. Fachleute sprachen von einem Meilenstein der Wissenschaft, der Mondlandung vergleichbar. Die Überraschung: Es zeigte sich, dass der "Text" des Genoms bei allen Menschen zu 99,9 Prozent identisch ist.
Inzwischen kann die Forschung auch ablesen, wie viele Gene der Mensch ungefähr hat. Überraschend wenig, nämlich nur etwa 25.500. Ein Wasserfloh bringt es auf rund 30.000 Gene. Die Komplexität des Homo Sapiens ist also nicht auf die Menge seiner Erbanlagen zurückzuführen.
Genom-Entschlüsselung: Der lange Weg zur Sprache des Lebens
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Ab 2003 galt das menschliche Genom als vollständig entziffert. Doch auch diese Version war noch nicht perfekt. Etwa acht Prozent der Erbinformationen fehlten. Es existierten schlicht noch nicht die geeigneten Technologien, um die noch fehlenden Abschnitte des Genoms zu lesen. Schwierigkeiten bereiteten vor allem DNA-Sequenzen, in denen sich die Grundbausteine häufig wiederholen, sogenannte repetitive Sequenzen. Der Durchbruch gelang erst zwei Dekaden später, im März 2022. Über 100 internationale Forscherinnen und Forscher berichteten im Fachmagazin "Science", die Reihenfolge der mehr als drei Milliarden DNA-Bausteine liege nun vollständig vor.
Möglich machten das verbesserte Sequenziermaschinen, die es erlaubten, auch längere Abschnitte des Erbgutes auf einmal zu bestimmen. Allerdings wurde bei der Sequenzierung 2022 zur Vereinfachung nur das X-Chromosom der väterlichen DNA in besonderen menschlichen Tumorzellen analysiert. Diese neue Sequenz enthielt 200 Millionen bis dahin unbekannte Nukleinbasen.
Gesucht: das humane Pangenom
Aber auch die extreme Genauigkeit des 2022 analysierten Genoms bezog sich wie das 2001 präsentierte erste entschlüsselte Genom nur auf jeweils einen einzigen Menschen, von dem das jeweilige Erbgut stammte. Weil das aber die Diversität der Menschheit mit ihren vielen möglichen Varianten im Genom nicht abbilden kann, sind Forscher inzwischen auf der Suche nach dem humanen Pangenom. Dieses neue Referenzgenom soll das Erbgut unterschiedlicher Menschen aus möglichst vielen verschiedenen Regionen und Völkern präsentieren. Im Mai 2023 wurde der erste Entwurf dazu im Fachmagazin Nature veröffentlicht, bestehend aus den Erbinformationen von 47 Personen. Auf 350 unterschiedliche Genome soll es noch anwachsen, so das momentane Ziel des Human Pangenome Reference Consortium (HPRC).
Erbkrankheiten besser verstehen
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Vergleicht man Unterschiede zwischen Abschnitten einzelner menschlicher Genome, lässt sich der Schlüssel zu (Erb-)Krankheiten verstehen. Für einige erblich bedingte Leiden haben Forscher inzwischen die verantwortlichen Gene identifiziert, was zu gezielten Therapien führen kann. Auch können Gentests mittlerweile eine Veranlagung für Alzheimer und Diabetes ans Licht bringen.
US-Präsident Bill Clinton (M.) im Jahr 2000 mit HGP-Direktor Francis Collins (r.) und Celera Genomics-Präsident Craig Venter (l.).
Die Komplexität des menschlichen Organismus ist aufgrund seines Genoms jedoch bis heute nicht zu erklären. Zu viele Faktoren, etwa die Genregulierung und der Informationsaustausch zwischen den Genen, spielen hier eine Rolle. Der Text des menschlichen Genoms ist nun zwar bekannt und das machte bereits bei der ersten Verkündung der Genom-Entschlüsselung vielen Hoffnung. „Jetzt lernen wir die Sprache, mit der Gott das Leben erschuf," sagte der damalige US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000. Bis wir die "Sprache des Lebens" aber wirklich verstehen, wird es noch lange dauern.