Higgs-Teilchen vor zehn Jahren entdeckt Das letzte Puzzlestück der Teilchenphysik
Die Aufregung am CERN war groß, als 2012 verkündet wurde: Wir haben mit unserer Urknallmaschine LHC das letzte Elementarteilchen entdeckt! Doch auch dieses Higgs-Boson kann nicht all unsere Fragen an das Universum beantworten.
"Wir haben eine Entdeckung: Wir haben ein Teilchen gefunden, das konsistent mit dem Higgs-Boson ist."
Rolf Heuer, damaliger CERN-Generaldirektor, 4. Juli 2012
Unter donnerndem Applaus und Jubelrufen von Forscherkolleginnen und -kollegen bestätigte es Rolf Heuer am 4. Juli 2012 ganz offiziell: Nach mehreren Jahrzehnten der Suche hatten Tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mithilfe der gigantisch großen Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider (LHC) - Spitzname "Urknallmaschine" - das Higgs-Boson gefunden. Das Higgs-Teilchen war das letzte Puzzlestück, das Physikerinnen und Physikern zu ihrem Verständnis der Teilchenphysik fehlte. Erst durch das Higgs-Boson ist jetzt das Standardmodell der Teilchenphysik vollständig.
Das Higgs-Boson im Standardmodell der Teilchenphysik
Das Higgs-Boson ist ein Elementarteilchen: Das heißt, dass es als Teilchen nicht mehr in weitere Teilchen zerlegt werden kann. Das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt, wie unser Universum und alle Materie darin aufgebaut sind. Es beschreibt alle Elementarteilchen sowie die Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Laut Standardmodell gibt es ingesamt 13 Elementarteilchen. Einige von diesen Elementarteilchen sind uns besser bekannt als andere: Eines davon ist das Photon, das Lichtteilchen. Ein anderes ist das Elektron. Und wieder andere Elementarteilchen haben so exotische Namen wie Top-Quark oder W-Boson und mussten erst in Experimenten gesucht und gefunden werden.
Protonen und Neutronen hingegen, die in Atomkernen stecken, sind keine Elementarteilchen: Sie sind nämlich aus Quarks aufgebaut. Die Quarks wiederum sind Elementarteilchen, da sie nicht weiter geteilt werden können.
Nach und nach gelang es Forschenden, alle Elementarteilchen nachzuweisen und zu finden. Nur das Higgs-Boson entzog sich jahrzehntelang allen Versuchen, es aufzuspüren - bis zu jenem 4. Juli 2012, als am Kernforschungszentrum CERN in Genf seine Entdeckung verkündet wurde.
Warum ist das Higgs-Boson so wichtig?
Vom Higgs-Teilchen bekommen wir in unserem Alltag nichts mit. Unsere Materie, aus der wir auch selbst aufgebaut sind, besteht aus Atomen, und die wiederum aus kleineren Teilchen: den Protonen, Neutronen und Elektronen. Doch das Higgs-Teilchen sorgt - wenn auch indirekt - für eine Grundeigenschaft aller Dinge: die Masse.
Im CMS-Detektor am Large Hadron Collider zerfällt ein Higgs-Teilchen in weitere Teilchen. Diese können Forschende messen.
Hätten Teilchen keine Masse, gäbe es keine Atome und keinerlei Materie, so wir wir sie kennen. Doch das Higgs-Teilchen schafft das nicht direkt. Stattdessen könnt ihr es euch so vorstellen: Zum Higgs-Teilchen gehört das sogenannte Higgs-Feld. Dieses Feld zieht sich durch das gesamte Universum. Allerdings ist es ein bisschen zäh. Die Elementarteilchen verspüren Widerstand, wenn sie sich durch das Feld bewegen. Dieser Widerstand ist nichts anderes als ihre Masse. Anders ausgedrückt: Die Elementarteilchen erhalten ihre Masse, weil sie mit dem Higgs-Feld wechselwirken.
In diesem Bild taucht das Higgs-Teilchen - oder Higgs-Boson - gar nicht auf. Denn es ist quasi nur der Repräsentant des Higgs-Feldes. Aber wenn es das Higgs-Teilchen gibt, muss es auch das Higgs-Feld geben. Aus diesem Grund haben Physikerinnen und Physiker jahrzehntelang nach diesem so flüchtigen Teilchen gesucht.
Elementarteilchen auf der Cocktail-Party
Der britische Physiker David Miller hat das Higgs-Feld mit einer Cocktail-Party verglichen. Wenn eine bedeutende Persönlichkeit, beispielsweise ein bekannter Politiker, den Raum betritt, sammelt sich schnell eine Traube anderer Gäste um ihn. Der Politiker kann sich vor lauter Menschen kaum mehr vorwärtsbewegen. Er ähnelt einem Teilchen mit hoher Masse, das nur mit viel Energie beschleunigt werden kann.
Wenn es aber diesen Higgs-Mechanismus gibt, dann muss es auch ein dazugehörendes Teilchen geben: das Higgs-Boson. Dieses Higgs-Boson entsteht, wenn sich das Higgs-Feld an bestimmten Stellen verdichtet. In der Cocktail-Party-Analogie wäre das der Fall, wenn die Gäste Grüppchen bilden, weil sie beispielsweise gerade den neuesten Tratsch austauschen. Das Higgs-Boson entspricht in dieser Analogie der Gruppe aus tratschenden Gästen. Rein physikalisch gesehen entspricht das Higgs-Boson einer Anregung des Higgs-Feldes - und nachdem man diesen Satz verdaut hat, könnte man wahrscheinlich einen Cocktail wahrlich gut gebrauchen.
Warum heißt das Higgs-Teilchen so?
Musste jahrzehntelang auf den Nachweis "seines" Teilchens warten: Der theoretische Physiker Peter Higgs erhielt 2013 den Nobelpreis für Physik.
Das Higgs-Teilchen ist nach dem schottischen Physiker Peter Higgs benannt, der zusammen mit Kollegen in den 1960er-Jahren den Mechanismus theoretisch beschrieb: Laut diesem "Brout-Englert-Higgs-Mechanismus" existiert im Universum ein Feld, das sogenannte Higgs-Feld. Damals waren dieses Higgs-Feld und das zugehörige Teilchen pure Theorie. Kein Wunder, dass Peter Higgs begeistert war, als 2012 das Higgs-Boson endlich experimentell gefunden wurde: "Es ist wirklich unglaublich, dass das noch zu meinen Lebzeiten passiert", sagte der damals 83-Jährige in Genf. Das sei ein "gewaltiger Erfolg" und "wirklich großartig". Das Nobelpreis-Komitee war ebenfalls begeistert - Peter Higgs erhielt 2013 den Nobelpreis für Physik.
Higgs-Teilchen oder Higgs-Boson?
Das Higgs-Teilchen ist ein Boson. Bosonen sind eine Art von Elementarteilchen, deren Eigendrehimpuls, der Spin, einer ganzzahligen Zahl entspricht. Der für uns bekannteste Vertreter dieser Klasse dürften die Photonen sein, die Lichtteilchen.
Was für ein Teilchen ist das Higgs-Teilchen?
Sehen kann man es nicht, dafür ist es viel zu klein. Sein Eigendrehimpuls, der sogenannte Spin, beträgt 0. Das Higgs-Teilchen ist elektrisch neutral. Aber es ist recht massereich und kommt auf rund 125 Gigaelektronenvolt. Das ist immerhin ungefähr so viel wie zwei Eisenatome. Und das Higgs-Boson ist extrem kurzlebig: In freier Wildbahn wird man kein Higgs-Teilchen antreffen. Es zerfällt quasi sofort wieder, sobald es erzeugt wurde.
Energie und Masse
"Elektronenvolt" ist wie Joule oder Kalorien eine Einheit für Energie: Ein Elektronenvolt entspricht der Bewegungsenergie, die ein Elektron beim Durchlaufen einer Spannng von einem Volt gewinnt. Da Energie und Masse eng miteinander verwandt sind, verwenden Physiker diese Einheit auch als Massenangabe für Elementarteilchen. Würden sie stattdessen Joule oder Kalorien verwenden, wären die Zahlenangaben für die winzigen Teilchen sehr unhandlich: Die 125 Gigaelektronenvolt des Higgs-Teilchens entsprechen nämlich 0,000000002 Joule.
Um das Higgs-Teilchen zu erforschen, müssen Physikerinnen und Physiker es umständlich in riesigen Teilchenbeschleunigern erzeugen: Am Large Hadron Collider LHC am CERN beschleunigen sie Protonen - ihrerseits übrigens keine Elementarteilchen - auf extrem hohe Energien, um anschließend zwei Protonenstrahlen mit Karacho zusammenprallen zu lassen. Bei derartigen Kollisionen entsteht neben allerlei Trümmerteilen auch manchmal ein Higgs-Boson. Das allerdings zerfällt prompt wieder. Deshalb kann das Higgs-Teilchen nur indirekt über Zerfallsprodukte nachgewiesen werden.
Alpha Centauri: Was ist ein Higgs-Teilchen?
Wieso hat die Suche nach dem Higgs-Teilchen so lange gedauert?
Was ist die "Urknallmaschine"?
Der Large Hadron Collider (LHC) am CERN trägt den Spitznamen "Urknallmaschine". Als Teilchenbeschleuniger erzeugt er natürlich keinen Urknall. Aber bei den Kollisionen von Teilchen kann er Bedingungen erzeugen, so wie sie kurz nach dem Urknall im Universum geherrscht haben sollen: Ein Gebrodel aus heißen, energiereichen Teilchen, mit Bedingungen, wie wir sie heute sonst nirgends mehr im Kosmos finden.
Das Higgs-Boson war lange Zeit das einzige Teilchen im Standardmodell der Physik, das nicht experimentell nachgewiesen werden konnte. Man wusste zwar, dass das gesuchte Teilchen eine Masse hat - aber nicht, welche. Deshalb wussten Physikerinnen und Physiker lange Zeit nicht, wo und wie sie überhaupt danach suchen sollten. Doch dass die Masse des Higgs-Teilchens groß sein muss, das wussten die Forschenden.
Das ergab aber eine Art technisches Problem: Um massereiche Teilchen wie das Higgs-Teilchen überhaupt zu erzeugen, müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immens hohe Energien aufbringen. Das hängt mit der berühmten Formel von Albert Einstein zusammen: E=mc². Anders ausgedrückt: Die Masse ist direkt proportional zur Energie. Und deshalb mussten die Forschenden zunächst die sogenannte "Urknallmaschine" bauen: den Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf. Der LHC ist ein riesiger Teilchenbeschleuniger: ein unterirdischer Ring mit rund 27 Kilometern Länge. In diesem Ring können Teilchen bis auf beinahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, bevor sie aufeinanderprallen.
Ist nach der Entdeckung des Higgs-Bosons alles geklärt?
Doch auch die Entdeckung des Higgs-Teilchens kann nicht alle offenen Fragen klären, die die Physik unserer Natur stellt. Ganz im Gegenteil. Denn das Standardmodell der Teilchenphysik mag mit dieser Entdeckung zwar vollständig sein: Nun sind alle Elementarteilchen und alle Kräfte experimentell bekannt, die dieses Modell theoretisch beschreibt. Allerdings wissen Forschende, dass das Standardmodell nicht ganz richtig sein kann.
Denn es gibt viele Dinge im Kosmos, die dieses Modell nicht erklären kann: die Dunkle Materie zum Beispiel, die einen Großteil der Materie in unserem Universum ausmachen soll. Es sagt für Neutrinos - ihrerseits eine Art Elementarteilchen - eine Masse von 0 voraus: Aber wir wissen, dass Neutrions eine Masse haben. Es kann nicht erklären, warum die Materie im Universum gegenüber der Antimaterie überwiegt. Deshalb sind Forschende auf der ganzen Welt nach einer Suche der Physik jenseits des Standardmodells, um auch diese Mysterien irgendwann erklären zu können.