Übung Einen dramatischen Text interpretieren
Im Mittelpunkt steht hier die Analyse und Interpretation dramatischer Texte. Nach der Analyse inhaltlicher und sprachlicher Besonderheiten geht es darum, eine zusammenhängende Interpretation zu schreiben. Unser Beispiel: eine Szene aus "Faust".
Hier nun geht es um die Verbindung einzelner Analyseergebnisse zu einer zusammenhägnenden Interpretation dramatischer Texte. Diese erfolgt in der Regel schriftlich. Die Beispiele stammen aus Goethes "Faust", der sogenannten Gretchentragödie.
Von der Analyse zur Interpretation dramatischer Texte
Einen dramatischen Text interpretieren bedeutet, aus einzelnen Beobachtungen und Analyseansätzen eine zusammenhängende Deutung zu entwickeln. Wie das geht, erfährst du in dieser Lektion in einem ersten Zugriff. Hier lernst du Einzelbeobachtungen und unterschiedliche Analyseaspekte zu einer schlüssigen Gesamtdeutung zusammenzufügen.
Dabei helfen dir drei Schlüsselfragen der Interpretation:
Was wird gesagt? (die inhaltliche Ebene des Textes)
Wie wird es gesagt? (die formale Ebene des Textes)
Warum wird es gesagt? (die kausale Ebene des Textes)
Arbeitsanregung
Schau dir genau an, wie in dem unten aufgeführten Beispiel der dramatische Text vermittels der drei Fragen erschlossen und die einzelnen Beobachtungen dann zu einer zusammenhängenden Deutung weiterverarbeitet werden. Lies dir zunächst den Text durch. Klick auf "Kommentare" und du findest die entsprechenden Fragen und Analysen. Unter "Interpretation" findest du die "Gesamtdeutung" der Szene:
Interpretation der Szene "Straße" aus J.W. von Goethes "Faust"
Szene "Straße"
Faust. Margarete vorübergehend.
Faust:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
Margarete:
Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn.
(Sie macht sich los und ab.)
Faust:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön!
So etwas hab’ ich nie gesehn.
Sie ist so sitt- und tugendreich,
Und etwas schnippisch doch zugleich.
Der Lippe Rot, der Wange Licht,
Die Tage der Welt vergess’ ich’s nicht!
Wie sie die Augen niederschlägt,
Hat tief sich in mein Herz geprägt;
Wie sie kurz angebunden war,
Das ist nun zum Entzücken gar!
(Mephistopheles tritt auf.)
Kommentare zum Text
Die Kommentare zu kursiv und fett markierten Textstellen stehen kursiv in Klammer (Falls möglich, kannst du auch mit unterschiedlichen Farben arbeiten.).
Faust. Margarete (vorübergehend). (Warum? Der Nebentext beschreibt das Handlungsgeschehen)
Faust: (DIALOG)
Mein schönes Fräulein (Was? Höflich, schmeichelnd und zugleich sehr direkt und forsch spricht Faust die auf der Straße an ihm vorübergehende Margarete mit "Mein schönes Fräulein" an.), darf ich wagen, (Wie? Das "darf" und das "wagen" erwecken den Eindruck großer Höflichkeit. Auch die Frageform unterstreicht diese beabsichtigte Wirkung. )
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen? (Was? Faust geht mit diesem ersten Satz schon sehr weit. Das ist eine unverhüllte Werbung um das Mädchen, ein 'Flirt', in dem Faust offen ausspricht, das er das Mädchen attraktiv findet – und das gleich bei der ersten Ansprache)
Margarete:
Bin (Wie? Verzicht auf das Personalpronomen 'Ich' – vielleicht weil Margarete Distanz signalisieren will und deshalb bewusst darauf verzichtet, sich persönlich als Ich einzubringen.) weder Fräulein, (Wie? Warum? Mit der Verneinung der Bezeichnung 'Fräulein' will Margarete deutlich machen, dass sie ein einfaches Mädchen ist, dem eine solch ehrerbietige Bezeichnung aus Standesgründen nicht zusteht.) weder schön, (Dass Margarete das Attribut "schön" zurückweist, kann als Ausdruck von Bescheidenheit, aber auch von Entschiedenheit gedeutet werden. Bescheiden sind ihre Worte, weil sie deutlich machen, dass sie sich auf Ihr Äußeres nicht einbildet. Entschiedenheit spricht aus ihren Worten, weil sie sich durch Schmeicheleien nicht so ohne Weiteres einfangen bzw. beeindrucken lässt.)
Kann ungeleitet nach Hause gehn.
(Sie macht sich los und ab.) (Was? Wie? Warum? Margarete setzt ihre sprachlich formulierte Distanz in die Tat um – "Sie macht sich los". Dabei macht der Kommentar deutlich: Faust hat nicht nur gefragt, ob er ihr seinen Arm als Geleit anbieten darf, sondern sie offenbar auch angefasst. Anderenfalls müsste sie sich nicht 'losmachen'.)
Faust: (MONOLOG)
Beim Himmel, (Was? Es ist interessant, dass Faust beim Anblick des Mädchens den Himmel anruft. Schließlich hat er nach seinem Pakt mit Mephisto ja gerade den Teufel zum Gefährten gwählt. Dieser hatte ihn in der Hexenküche durch magische Tränke und Zaubersprüche wieder in einen jungen Mann verwandeln lassen. Entsprechend forsch und unmissverständlich hatte sich, der nun vor allem durch sinnlich-sexuelle Begierden bestimmte, Faust Margarete genähert. Nun aber, nach der ersten Begegnung, scheint Faust wie verwandelt. Er besinnt sich, hält inne und ist emotional berührt.) dieses Kind (Hinweis auf das Alter. Margarete ist noch sehr jung.) ist schön! (Wie? Warum? Erneut verwendet Faust das Attribut ‚schön’. Dieses Mal will er dem Mädchen aber nicht schmeicheln. Seine Aussage ist nicht nach außen gerichtet, sondern stellt eine ganz ehrliche, erstaunte und anerkennende Feststellung dar.)
So etwas hab’ ich nie gesehn. (Was? Einerseits verdeutlicht die Textstelle: Faust hatte als Wissenschaftler offenbar keinen Blick für das andere Geschlecht. Andererseits wird deutlich, wie tief Faust von Margarete beeindruckt ist und wie stark er sich angezogen fühlt.)
Sie ist so sitt- und tugendreich, (Wie und Was? Fausts Blick ist nun eindeutig nach innen gerichtet. Er betrachtet nicht länger das Äußere, sondern das Innere. Indem er Margarete als "sitt- und tugendreich" bezeichnet, macht er sich ihre moralische Grundausrichtung bewusst. Wichtig dabei: Er kann sie wahrnehmen, d.h. er ist noch längst nicht so in Mephistos Dunstkreis, dass er nur von sexueller Begierde getrieben innere Qualitäten nicht mehr wahrzunehmen vermag. Gleichzeitig erschließt sich vor diesem Hintergrund das Attribut "schön" in einer tieferen Bedeutung. Der Ausdruck 'schöne Seele' bezeichnete schon in Empfindsamkeit und Sturm- und Drang, vor allem aber in der Klassik die seelische Vollkommenheit eines Menschen. Margarete, so lässt sich folgern, erscheint Faust sowohl äußerlich als auch innerlich als "schön".
Hier deutet sich an, wie sehr der Plan Mephistos, Faust durch Sinnenlust zu betäuben, im Kern bedroht ist. Ungewollt hat Mephisto in Margarete einen mit dem Himmlischen verbundenen Gegenpol erhalten, der in der Lage ist, Faust vom 'dunklen Drang' zurück ins Licht zu führen.)
Und etwas schnippisch (Mit dem Adjektiv "schnippisch" nimmt Faust nun deutlicher das Selbstbewusste und Aufreizende in Margaretes Auftreten und in ihrer Erscheinung in den Blick. Diese Seite ihres Wesens ist offenbar besonders attraktiv für Faust.) doch zugleich.
Der Lippe Rot, der Wange Licht, (In den Beschreibungen "Der Lippe Rot, der Wange Licht" wird verdeutlicht, wie fasziniert Faust von Margarate ist und wie attraktiv sie auf ihn wirkt.)
Die Tage der Welt vergess’ ich’s nicht (Eine erneute Bestätigung, wie nachhaltig Margarete Faust in ihren Bann gezogen hat - und wie sehr der Plan Mephistos, Faust durch Sinnenlust zu betäuben, im Kern bedroht ist) ! (Die Ausrufungszeichen unterstreichen die tiefe emotionale Wirkung, die Margarete auf Faust ausübt.)
Wie sie die Augen niederschlägt, (Warum? Das Niederschlagen der Augen lässt sich als Symbol für die Bescheidenheit, Demut und hohe Gesinnung deuten.)
Hat tief sich in mein Herz (Dazu passt, dass Faust vom 'Herzen' spricht, das das Bild der schönen und sittsamen Margarete tief berührt hat. Hier klingen Einflüsse der Epoche der Empfindsamkeit an, in der das 'Herz' ein Schlüsselbegriff gewesen ist. Das Herz war das Erkenntnisorgan empfindsamer Seelen und der 'Ort', an dem empfindsame Menschen tiefe Verbundenheit miteinander spüren.) geprägt;
Wie sie kurz angebunden (Auch mit der Formulierung "kurz angebunden" rückt erneut eine Erscheinungsweise von Margaretes Selbstbewusstsein und unerschütterlicher ethisch.moralischer Festigkeit ins Blickfeld.) war,
Das ist nun zum Entzücken (Mit der Formulierung "zum Entzücken gar" wird deutlich, dass nun äußere Attribute und Wahrnehmungen wieder mehr in das Blickfeld Fausts treten. Mit anderen Worten: Das ursprüngliche sinnlich-erotische Begehren scheint wieder mehr die Oberhand zu gewinnen.) gar!
(Mephistopheles tritt auf.) (Wie? Die Regieanweisung macht deutlich, dass sich nun das Handlungsgeschehen erneut verändert. Der MONOLOG Fausts endet, ein DIALOG zwischen Faust und Mephisto kündigt sich an.
Warum? Dass in dem Moment, in dem Faust sich ein Entzücken eingesteht und damit wieder stärker sinnlich-erotisch reagiert, Mephisto wieder auf den Plan tritt, ist natürlich kein Zufall. Denn dieser erkennt, dass er in diesem Augenblick wieder einen Angriffspunkt hat.)
Interpretation
Nach Fausts Verjüngungskur in der Hexenküche zeigt die Szene "Straße" den verjüngten Faust in einer scheinbar zufälligen, aber gleichwohl sehr folgenreichen Begegnung mit einem jungen Mädchen – Margarete.
Der Nebentext nennt die beiden Protagonisten – Faust und Margarete – und beschreibt das Handlungsgeschehen: "vorübergehend". Dann setzt unmittelbar der kurze Dialog zwischen beiden ein. Höflich, schmeichelnd und zugleich sehr direkt und forsch spricht Faust die auf der Straße an ihm vorübergehende Margarete mit "Mein schönes Fräulein" (V. 2605) an. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, wie viel mit diesen drei Worten bereits ausgesagt ist. Denn mit dem Attribut "schön" äußert Faust unverhohlen, dass er Margarete attraktiv findet, mit dem Substantiv "Fräulein", dass er sie gesellschaftlich auf einer Stufe mit ihm sieht bzw. gesellschaftliche Unterschiede für ihn keine Rolle spielen. Das besitzanzeigende Personalpronomen "Mein" wiederum signalisiert einen Anspruch oder ein Angebot: Du könntest zu mir gehören. Damit geht Faust sehr weit. Mit den folgenden Worten sucht er den forschen Charakter seiner Anrede wieder etwas zu relativieren. Das "darf" und das "wagen" (V. 2605) erwecken den Eindruck großer Höflichkeit, die Formulierung "Arm und Geleit antragen" (V. 2606) bettet die Anrede in ein gesellschaftlich anerkanntes Verhaltensmuster ein und nimmt dem Distanzlosen so etwas von seiner möglicherweise brüskierenden Wirkung. Auch die Frageform lässt auf eine solche beabsichtigte Wirkung schließen.
Gleichwohl geht Faust mit diesem ersten Satz schon sehr weit. Der Satz stellt eine unverhüllte Werbung um das Mädchen dar, ein 'Flirt', in dem Faust offen ausspricht, dass er das Mädchen begehrenswert findet – und das gleich bei der ersten Ansprache.
Margaretes Antwort aber ist nicht minder interessant und facettenreich. Zunächst fällt gleich zu Beginn des Satzes der Verzicht auf das Personalpronomen 'Ich' auf. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Denkbar ist, dass die Formulierung das Flüchtige der Begegnung unterstreichen soll. In einem solch flüchtigen Zusammentreffen kann es Sinn machen, darauf zu verzichten, sich persönlich als 'Ich' einzubringen. Vielleicht soll aber auch Margaretes Distanz zu dieser forschen Anrede von Faust betont werden. Diese Vermutung wird gestützt durch die doppelte Zurückweisung, die Margarete in ihrer Antwort vornimmt: "Bin weder Fräulein, weder schön" (V 2607).
Mit der Verneinung der Bezeichnung 'Fräulein' will Margarete deutlich machen, dass sie ein einfaches Mädchen ist, dem eine solch ehrerbietige Bezeichnung aus Standesgründen nicht zusteht.
Dass sie auch das Attribut "schön" zurückweist, kann als Ausdruck von Bescheidenheit oder von Entschiedenheit gedeutet werden. Bescheiden sind Margaretes Worte, weil sie deutlich machen, dass sie sich auf ihr Äußeres nichts oder nur wenig einbildet. Entschiedenheit spricht aus ihren Worten, weil sie sich durch Schmeicheleien nicht so ohne Weiteres einfangen bzw. beeindrucken lassen will. Dabei klingt die abschließende Formulierung "Kann ungeleitet nach Hause gehn" (V. 2608) fast ein wenig trotzig. Dass diese Deutung plausibel ist, lässt sich aus ihrem weiteren Verhalten ablesen, das in der folgenden Regieanweisung beschrieben ist. Margarete setzt ihre sprachlich formulierte Distanz in die Tat um: "Sie macht sich los". Gleichzeitig macht der Kommentar deutlich: Faust hat nicht nur gefragt, ob er ihr seinen Arm als Geleit anbieten darf, sondern sie offenbar auch berührt oder angefasst. Anderenfalls müsste sie sich nicht 'losmachen'.