Neandertaler Wie viele Urmenschen-Gene stecken in uns?

Von: Delia Friess

Stand: 28.10.2022

Jahrzehntelang versuchten Forschende um den späteren Nobelpreisträger Svante Pääbo, das Neandertaler-Erbgut zu entschlüsseln. Ihr Durchbruch bringt neue Erkenntnisse über die Geschichte der Menschheit - und sogar über unsere heutige Gesundheit.

Ein nachgebauter Neandertaler mit einem Holzstab in der Hand lächelt. Das Neandertaler-Genom gibt auch Rückschlüsse auf homo sapiens.  | Bild: picture-alliance/dpa

Seit vor rund 170 Jahren die ersten Knochen eines Neandertalers gefunden wurden, ranken sich viele Rätsel um die Urmenschen: Wie lebten sie und warum verschwanden sie? Waren sie uns, den Homo sapiens, unterlegen? In den letzten Jahrzehnten versuchten Wissenschaftler, der Geschichte der Urmenschen mittels Erbgut-Analysen auf den Grund zu kommen. Dabei geht es auch um so existenzielle Fragen wie: Was unterscheidet uns Homo sapiens von den Neandertalern? Und: Wie viel Neandertaler steckt in uns und was bedeutet das für unser Leben heute?

Zufälliger Fund: Die Entdeckung der ersten Neandertaler-Knochen

Die Knochen eines Neandertalers, die 1856 nahe Düsseldorf gefunden wurden. | Bild: picture-alliance/dpa

Das Skelett eines 40.000 Jahre alten Neandertalers, das 1856 im Neandertal bei Düsseldorf gefunden wurde.

1856 wurden die ersten Neandertaler-Knochen bei Bauarbeiten in Nordrhein-Westfalen gefunden. Unter Wissenschaftlern löste das eine Kontroverse aus. Abwegig und nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben erschien es damals, dass sich der Mensch im Laufe der Evolution entwickelt hat. Gewissheit, ob und inwieweit wir vom Neandertaler abstammen oder mit ihm verwandt sind, schaffte aber erst die Rekonstruktion des Erbguts nach der Jahrtausendwende. Svante Pääbo, der spätere Medizin-Nobelpreisträger 2022, war der Entschlüsselung des Neandertaler-Erbguts schon länger auf der Spur. Sie sollte erstaunliche Einblicke in die Menschheitsgeschichte geben.

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Rätsel gelöst: Das Puzzle des Neandertaler-Genoms

Svante Pääbo und zwei andere Wissenschaftler schauen auf den Knochen eines Neandertalers.  | Bild: picture-alliance/dpa

Dem Rätsel auf der Spur: Der spätere Nobelpreisträger Svante Pääbo mit zwei weiteren Wissenschaftlern um die Jahrtausendwende.

Das gesamte Erbgut eines Lebewesens wird Genom genannt. Das Erbgut aus fossilen Überresten und Mumien zu entschlüsseln, war das Ziel des schwedischen Wissenschaftlers Svante Pääbo. Schon früh interessierte er sich für das alte Ägypten. Pääbo entschloss sich dann aber wie sein Vater, der Nobelpreisträger Sune Bergström, Medizin zu studieren. Bereits in den 1980er-Jahren suchte er als junger Wissenschaftler nach Verfahren, um DNA in ägyptischen Mumien zu gewinnen. Da DNA nach so vielen Jahrtausenden stark von Pilzen und Mikroben zersetzt ist, handelt es sich um ein kompliziertes Verfahren. Pääbo scheiterte - vorerst. Denn das vermeintlich entschlüsselte Erbgut war durch die Arbeiten im Labor verunreinigt. Aber der Wissenschaftler gab nicht auf und begründete damit ein ganzes Forschungsfeld: die Paläogenetik. Er und sein Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig entwickelten immer speziellere Verfahren, um die über die Jahre zerstückelte DNA zu klonen und wie Puzzle-Teile zusammenzusetzen.

Dafür gewannen sie mit einem kleinen Bohrer Knochenpulver aus den fossilen Knochen. Im Anschluss verflüssigten sie das Pulver und mit Computerprogrammen rekonstruierten sie dann aus den Bruchstücken das Genom: 1997 konnten sie einen kurzen Bestandteil der DNA eines Neandertalers entschlüssen, 2004 den Zellkern und 2014 dann das gesamte Genom. Dabei kam heraus: Der Neandertaler ist nicht unser direkter Vorfahr, aber ein enger Verwandter. 2010 sequenzierte Prof. Johannes Krause, damals auch Mitglied der Forschungsgruppe Pääbos, auf die gleiche Weise eine winzige fossile Fingerkuppe, die in einem Briefumschlag auf seinem Schreibtisch gelandet war. Das Ergebnis war eine kleine Sensation, denn es gab noch eine weitere Urmenschform: Den Denisova-Mensch, benannt nach der Denisova-Höhle in Sibirien, aus der die Fingerkuppe stammt.

Gen-Spurensuche: Wie viel "Neandertaler" steckt im modernen Menschen?

Ein Neandertalerknochen wird angebohrt, um Knochenpulver zu gewinnen. Daraus kann die DNA extrahiert werden. | Bild: picture-alliance/dpa

Aus Knochenpulver wird die über die Jahrtausende zerstückelte DNA geklont und wie Puzzle-Teile zusammengesetzt.

Das Ergebnis der Genom-Analyse zeigt, dass unsere Gene hauptsächlich vom modernen Menschen aus Afrika stammen. Homo sapiens wanderten vor rund 40.000 Jahren nach Europa und Asien ein. Dort trafen sie in Eurasien auf den Neandertaler und in Asien auf den Denisova-Menschen. Offenbar kam es zum Sex und, wie die Wissenschaftler es nennen, zu "Genflüssen". Deshalb tragen Menschen außerhalb Afrikas noch einen kleinen Anteil von anderen Urmenschformen in sich: Insgesamt haben sich rund 40 Prozent Neandertaler-Gene erhalten. Jeder Mensch trägt nur ein bis zwei Prozent davon in sich, und wir haben nicht alle die gleichen Neandertaler-Gene. Menschen in Asien tragen außerdem zusätzlich Gene des Denisovaner-Menschen in sich. In Papua-Neuguinea und Australien sogar etwas mehr, nämlich einen Anteil von vier bis fünf Prozent.

Grafik: Gene vermischen sich

Die Karte zeigt, die Verbreitung von Neandertalern und Denisovanern. Untereinander gab es kulturellen Austausch und Fortpflanzung. Als die Homo sapiens vor rund 40.000 Jahren aus Afrika einwanderten, vermischten sie sich mit Neandertalern und Denisovanern.  | Bild: BR

Neandertaler und Denisovaner hatten kulturellen Austausch und nachweislich gemeinsame Kinder. Als Homo sapiens vor etwa 40.000 Jahren aus Afrika einwanderten, pflanzten sie sich auch mit Neandertalern und Denisovanern fort. Wahrscheinlich hatten Neandertaler und Denisovaner auch gemeinsame Ursprünge in Afrika. Es gibt außerdem auch Hinweise auf weitere Menschenformen im Pazifikraum.

Gesundheit: Wie machen sich Neandertaler-Gene heute bemerkbar?

Auf einer Sequenzierplatte sind ca. 100 Millionen DNA-Sequenzen gespeichert, die bestimmt werden können.  | Bild: picture-alliance/dpa

Auf einer Sequenzierplatte sind ca. 100 Millionen DNA-Sequenzen gespeichert, die bestimmt werden können.

Den Genom-Analysen zufolge haben sich Gene der Urmenschen deshalb erhalten, weil sie früher einen wichtigen Sinn erfüllten. Dass Menschen in den tibetischen Hochgebirgen so gut mit den Luftverhältnissen zurechtkommen, geht beispielsweise auf den Denisova-Mensch zurück. Von den Neandertalern wurden allerdings hauptsächlich "Risikogene" vererbt. Das Risiko für Typ-2-Diabetes und Anfälligkeiten für Depressionen, Nikotinabhängigkeit und Nierenprobleme stammen von Neandertalern. Forscher entdeckten sogar eine Gen-Variante, die das Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung steigert. Gleichzeitig verringert die Gen-Variante das Risiko, sich mit HIV zu infizieren. Sie schützt jedoch auch vor Cholera, weshalb sie früher eine wichtige Funktion hatte. Aber auch Kurioses haben wir vererbt bekommen: Zusammengewachsene Augenbrauen und Rückenbehaarung gehen wohl ebenfalls auf die Neandertaler zurück.

Moderner Mensch: Unterschiede zum Neandertaler im Gehirn

Zwei Schädel nebeneinander: Links der Schädel eines Neandertalers, rechts der Schädel des modernen Menschen. | Bild: picture-alliance/dpa

Der Schädel eines Neandertalers (links) und der eines modernen Menschen (rechts).

Was die Wissenschaftler um Svante Pääbo aber auch interessiert: Welche Gene wurden nicht weitergegeben? Denn die Unterschiede zum modernen Menschen könnten Aufschluss darüber geben, warum wir uns so schnell überall auf der Welt verbreitet haben und uns anpassen konnten. Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass Neandertaler und der moderne Mensch zwar ein ähnlich großes Gehirn haben, es aber bei wenigen Proteinen Unterschiede in der Abfolge der Aminosäuren gibt. Laut dem Forscherteam am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wirkt sich das auf die Bildung von Nervenzellen aus. Die Ergebnisse legen nahe, dass Föten der Neandertaler weniger Nervenzellen produzierten als die von modernen Menschen. Eine andere Untersuchung zeigt, dass die "Gehirnfunktion der Neandertaler stärker von Chromosomenfehlern beeinflusst wurde als die des modernen Menschen". Chromosomenverteilungsfehler begünstigen Erkrankungen wie Krebs und Trisomien, so die Wissenschaftler weiter. Stammzellen im Gehirn von modernen Menschen würden sich hingegen mehr Zeit nehmen, um ihre Chromosomen auf die Zellteilung im Gehirn vorzubereiten. Die Neandertaler-Forscher erhoffen sich künftig noch mehr Erkenntnisse über das Gehirn der Urmenschen.

Höhlenmensch: Wie lebte der Neandertaler?

Blick aus dem Inneren der Vindija Höhle hinaus in ein Waldgebiet. In der Vindija Höhle in Kroatien lebten vor 39.000 bis 47.000 Jahren Neandertaler, von deren Erbgut noch heute Reste in der DNA des modernen Homo Sapiens zu finden ist. | Bild: M. Hajdinjak

Blick aus dem Inneren der Vindija-Höhle in Kroation hinaus in ein Waldgebiet. In der Höhle lebten vor rund 47.000 Jahren Neandertaler.


Genom-Analysen können sogar Erkenntnisse über das Sozialleben der Neandertaler liefern. Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig untersuchten zwei nahe beieinander liegende Neandertaler-Höhlen in Sibirien. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Neandertaler in kleinen Gruppen von zehn bis zwanzig Mitgliedern zusammenlebten. Einige waren sogar miteinander verwandt: Die Forscher hatten die erste Neandertaler-Familie nachgewiesen. Dabei seien es vor allem die Frauen gewesen, die ihre Geburtsgruppe verlassen und sich einer anderen Gruppe angeschlossen hätten.

Die meisten Forscher gingen bis vor kurzem davon aus, dass Homo sapiens Kunstfertigkeit, die auf abstraktes Denken schließen lässt, komplexere Sprache und ausgefeiltere Jagdwerkzeuge entwickelt haben. Deshalb soll der moderne Mensch einen Vorteil in der Evolution gehabt haben. Neuere Untersuchungen geben aber auch Hinweise darauf, dass der Neandertaler bisher unterschätzt worden sein könnte. So weist ein fossiler Zahn darauf hin, dass auch Neandertaler eine bestimmte Steinwerkzeugtechnik genutzt haben. Diese wurde bisher nur mit den Homo sapiens in Verbindung gebracht. Ob das auf den bereits nachgewiesenen Austausch zwischen Neandertalern und Homo sapiens schließen lässt oder die Neandertaler unabhängig vom modernen Menschen diese Technik nutzten, ist noch nicht vollständig geklärt. Aber Wissenschaftler der Universität Göttingen fanden auch Knochen mit Schnitzereien, die auf abstraktes Denken schließen lassen. Und das aus einer Zeit, als der moderne Mensch wohl noch nicht in Europa war.

Diskussion: Warum verschwand der Neandertaler?

Schon vor 400.000 Jahren gab es die ersten Neandertaler. Neandertaler lebten in Europa, Teilen Asiens und in Sibirien. Vor rund 40.000 Jahren verschwand der Neandertaler. Wahrscheinlich gibt es dafür mehrere Ursachen. Neandertaler lebten unter schwersten Bedingungen: Während der Eiszeit herrschten sehr kalte Temperaturen. Ihre Körper waren kräftig und stämmig und damit gut an die Temperaturen angepasst, aber die Kälte machte Treffen zwischen den Gruppen zur Fortpflanzung schwierig. Zusätzlich hatten sie eine hohe Kindersterblichkeit und wurden nicht sonderlich alt. Dadurch könnte sich die Anzahl der Neandertaler zuletzt stark verringert haben. Vielleicht spielte auch ein Vulkanausbruch eine Rolle, der die letzten Neandertaler-Gruppen auslöschte. Die wahrscheinlichste These für das "Verschwinden" des Neandertalers ist jedoch, dass sie schlicht und einfach im modernen Menschen aufgingen, als sie sich mit ihm fortpflanzten. Die Gene des Neandertalers seien dabei größtenteils verdrängt worden, wohl auch, weil der Homo sapiens zahlenmäßig so überlegen gewesen sei. Aber ganz weg war der Neandertaler ja nie, wie die Erbgutanalyse zeigt.

Video: Was ist mit den Neandertalern passiert?

Menschheitsgeschichte: Warum sind die Neandertaler ausgestorben?

Quellen und Sendungen: Mehr Infos über Neandertaler