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Medizin-Nobelpreis 2022 Warum die Erforschung des Neandertaler-Genoms preiswürdig ist

Woher kommen wir, und in welcher Beziehung stehen wir zu denen, die vor uns kamen? Was unterscheidet uns Homo sapiens von anderen menschenartigen Wesen? Diese Frage stellt sich Svante Pääbo, der Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 2022 - und beantwortet sie mit Methoden der Genforschung.

Von: Ortrun Huber

Stand: 03.10.2022 | Archiv |Bildnachweis

Der Nobelpreis für Medizin geht 2022 an den in Leipzig forschenden Schweden Svante Pääbo für seine Erkenntnisse zur menschlichen Evolution.  | Bild: Frank Vinken / Max-Planck-Gesellschaft/digital/AP/dpa

Von Afrika in die ganze Welt

Die Forschung liefert Beweise dafür, dass der anatomisch moderne Mensch Homo sapiens vor etwa 300.000 Jahren zum ersten Mal in Afrika auftauchte. Bereits zuvor, vor etwa 400.000 Jahren bis vor 30.000 Jahren, entwickelten und besiedelten unsere engsten bekannten Verwandten, die Neandertaler, Europa und Westasien. Vor etwa 70.000 Jahren wanderten Gruppen des Homo sapiens von Afrika in den Nahen Osten aus und breiteten sich von dort aus über den Rest der Welt aus. Homo sapiens und Neandertaler lebten also in weiten Teilen Eurasiens Zehntausende von Jahren nebeneinander. Doch das, was wir heute über unsere Beziehung zu den ausgestorbenen Neandertalern wissen, kann nur aus genetischen Informationen abgeleitet werden.

Wie diese aus dem archaischen Material eines Neandertaler-Knochen isoliert werden können, fand der diesjährige Medizin-Nobelpreisträger Svante Pääbo heraus. Der 67-jährige Mediziner und Biologe gilt als Begründer der Paläogenomik, einer Forschungsdisziplin, die sich mit der Analyse genetischer Proben aus Fossilien und prähistorischen Funden befasst. Der gebürtige Schwede ist derzeit am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig tätig. „Seine Entdeckungen haben die Grundlage für die Erforschung dessen geschaffen, was uns Menschen so einzigartig macht", erklärte die Nobelpreis-Jury.

Genetik für archaische Proben

Das bahnbrechende an Pääbos Forschung ist das Alter des Materials, mit dem er arbeitet. 1996 gelang ihm die Entschlüsselung der ersten DNA-Sequenzen eines Neandertalers. Eine große technische Herausforderung, denn mit der Zeit wird die DNA chemisch verändert und zerfällt in kurze Fragmente. Nach Tausenden von Jahren sind nur noch Spuren von DNA übrig, und was übrig bleibt, ist massiv mit DNA von Bakterien und heutigen Menschen kontaminiert. Die Methoden zur Untersuchung der DNA von Neandertalern zu entwickeln, dauerte mehrere Jahrzehnte.

Unseren Vorfahren auf der Spur

Deutschlands Forschung: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig

Die Entwicklung der Paläogenomik

Svante Pääbo wurde 1990 an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen, wo er als Professor seine Arbeiten zur archaischen DNA intensivierte. Er beschloss, die DNA von Neandertaler-Mitochondrien zu analysieren – strukturell abgegrenzte Bereiche in Zellen, die ihre eigene DNA enthalten. Das mitochondriale Genom ist klein und enthält nur einen Bruchteil der genetischen Information in der Zelle, aber es ist in Tausenden von Kopien vorhanden, was die Erfolgschancen erhöht. Mit seinen ausgefeilten Methoden gelang es Pääbo, eine Region mitochondrialer DNA aus einem 40.000 Jahre alten Knochenstück zu sequenzieren und damit erstmals Zugang zu einem Teil der Erbinformation eines ausgestorbenen Verwandten zu erlangen.

Vergleiche mit heutigen Menschen und Schimpansen zeigten, dass Neandertaler genetisch unterschiedlich waren. Da Analysen des kleinen mitochondrialen Genoms nur begrenzte Informationen lieferten, versuchte Pääbo nun das Kerngenom des Neandertalers zu sequenzieren. Zu dieser Zeit bot sich ihm die Chance, ein Max-Planck-Institut in Leipzig zu gründen. Hier verbesserten Pääbo und sein multidisziplinären Team stetig die Methoden zur Isolierung und Analyse von DNA aus archaischen Knochenresten. Das Forschungsteam nutzte neue technische Entwicklungen, die die DNA-Sequenzierung hocheffizient machten. 2010 konnte Pääbo schließlich die erste Neandertaler-Genomsequenz veröffentlichen. Vergleichende Analysen zeigten, dass der jüngste gemeinsame Vorfahr von Neandertaler und Homo sapiens vor etwa 800.000 Jahren lebte. Zudem konnten Pääbo und sein Team nun auch die Beziehung zwischen Neandertalern und modernen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt untersuchen.

Analysen zeigten, dass DNA-Sequenzen von Neandertalern Sequenzen heutiger Menschen aus Europa oder Asien ähnlicher waren als denen heutiger Menschen aus Afrika. Das bedeutet, dass sich Neandertaler und Homo sapiens während ihrer jahrtausendelangen Koexistenz kreuzten. Bei modernen Menschen europäischer oder asiatischer Abstammung stammen etwa ein bis vier Prozent des Genoms vom Neandertaler.

Der Denisova-Mensch

Schließlich entdeckten Pääbo und sein Leipziger Team einen bisher unbekannten menschlichen Urahn, den Denisova-Menschen. Grundlage dafür war die Analyse der DNA-Sequenz aus einem Fingerknochen, der in der russischen Denisova-Höhle gefunden worden war. Der Denisova-Menschen ist eng verwandt mit dem Neandertalern und steht dem modernen Menschen (Homo sapiens) nahe, ist allerdings genetisch von beiden Arten zu unterschieden. 

Vergleich der drei Menschengenome

Überlagerung

Die Paläogenetiker haben drei Menschengenome, die sie mithilfe von Computern übereinanderlegen und vergleichen können: Das Erbgut der Denisova-Menschen, das der Neandertaler und das des heutigen Menschen. Die drei zeigen beim direkten Vergleich sowohl viele Unterschiede als auch einige Gemeinsamkeiten. Und dies ermöglicht bislang ungeahnte Einblicke in die menschliche Genetik, so Svante Pääbo, Direktor des Leipziger Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie.

Erkenntnisse auch für die moderne Medizin

Pääbos wegweisende Forschung begründete eine völlig neue wissenschaftliche Disziplin, die Paläogenomik. Durch die Analyse genetischer Unterschiede, die den lebenden Menschen von ausgestorbenen Menschenartigen unterscheiden, liefern seine Studien die Grundlage für die Erforschung dessen, was die körperlichen Lebensvorgänge im Menschen ausmacht. So zeigte sich beispielsweise, dass Neandertaler-Gene unsere Immunantwort auf verschiedene Arten von Infektionen beeinflussen. Erkenntnisse wie diese liefern der modernen Medizin Ansatzpunkte, um sich etwa auf kommende Epidemien vorzubereiten.

Studien: Wie der Mensch zum Menschen wurde

Orrorin tugenensis - "Millennium Man" aus Kenia

Orrorin tugenensis ist eine ausgestorbene Menschenaffenart, die vor sechs Millionen Jahren in Kenia vorkam. Das beweist die Untersuchung eines gut erhaltenen Oberschenkelknochens. Aufgrund seiner Entdeckung im Jahr 2000 wird der Menschenaffe auch als "Millennium Man" bezeichnet. Da Orrorin tugenensis bereits aufrecht gehen konnte, wird er in die Reihe der Gattung Hominini gestellt. Forscher gehen davon aus, dass O. tugenensis zwar noch Bäume erklomm, sich am Boden aber auf zwei Beinen fortbewegte. Der moderne Mensch hat sich aber wohl nicht direkt aus ihm entwickelt, wie zunächst angenommen.

Chronik: Medizin-Nobelpreisträger der vergangenen Jahre

  • 2021: David Julius (USA) und Ardem Patapoutian (USA, Libanon) für ihre Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper
  • 2020: Die US-Forscher Harvey J. Alter, Michael Houghton und Charles M. Rice für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus
  • 2019: Peter Ratcliffe (Großbritannien), William Kaelin und Gregg Semenza (beide USA) für die Entdeckung, wie Zellen den Sauerstoffgehalt der Umgebung wahrnehmen
  • 2018: James P. Allison (USA) und Tasuku Honjo (Japan) für ihre Forschung an Proteinen im Kampf gegen Krebs
  • 2017: Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash und Michael W. Young (alle USA) für die Erforschung der Inneren Uhr
  • 2016: Yoshinori Ohsumi (Japan) für seine Forschung über die sogenannte Autophagie, die "Selbstverdauung" der Zellen
  • 2015: William Campell (Irland), Satoshi Ōmura (Japan), Tu Youyou (China) für die Bekämpfung von krankheitsübertragenden Parasiten
  • 2014: John O'Keefe (USA) und das Ehepaar May-Britt und Edvard Moser (Norwegen) für ihre Forschungen darüber, wie das menschliche Gehirn Ortsinformationen speichert und verarbeitet
  • 2013: James Rothman (USA), Randy Schekman (USA) und Thomas Südhof (Deutschland u. USA) für ihre Entdeckungen zu Transportprozessen in Zellen.
  • 2012: Der Japaner Shinya Yamanaka und der Brite John Gurdon für ihre Entdeckung, wie sich reife, spezialisierte Körperzellen in unreife, pluripotente Zellen umprogrammieren lassen.
  • 2011: Der US-Forscher Bruce A. Beutler, der Franzose Jules A. Hoffmann und der Kanadier Ralph M. Steinman haben mit ihren Forschungen Schlüsselprinzipien der körpereigenen Immunabwehr aufgeklärt.
  • 2010: Der Brite Robert Edwards brachte die erste künstliche Befruchtung einer menschlichen Eizelle im Reagenzglas zustande - und schuf damit das erste "Retortenbaby".
  • 2009: Die US-Amerikaner Elizabeth H. Blackburn, Carol W. Greider und Jack W. Szostak haben herausgefunden, was Zellen altern lässt und dabei das "Jungbrunnen"-Enzym entdeckt.
  • 2008: Der Heidelberger Tumorforscher Harald zur Hausen (1936 - 2023) für die Entdeckung der Papilloma-Viren, die Gebärmutterhalskrebs auslösen, sowie die Franzosen Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier für die Entdeckung des Aidserregers HIV.
  • 2007: Die US-Forscher Mario R. Capecchi und Oliver Smithies sowie der Brite Martin J. Evans für ihre Technik, bei Versuchsmäusen gezielt Gene auszuschalten
  • 2006: Die US-Forscher Andrew Z. Fire und Craig C. Mello für eine Technik, mit der sich Gene gezielt stumm schalten lassen.
  • 2005: Barry J. Marshall und J. Robin Warren (beide Australien) für die Entdeckung des Magenkeims Heliobacter pylori und dessen Rolle bei der Entstehung von Magengeschwüren.
  • 2004: Richard Axel und Linda Buck (beide USA) für die detailgenaue Enträtselung des Geruchssinns.
  • 2003: Paul C. Lauterbur (USA) und Sir Peter Mansfield (GB) für ihre Beiträge zur Anwendung der Kernspintomographie in der Medizin.
  • 2002: Sydney Brenner (GB), H. Robert Horovitz (USA) und John E. Sulston (GB) für die Erforschung des programmierten Zelltods als Grundlage zum Verständnis von Krebs, Aids und anderen Krankheiten.
  • 2001: Leland H. Hartwell (USA), Sir Paul M. Nurse (GB) und R. Timothy Hunt (GB) für Erkenntnisse über die Zellteilung, die neue Wege in der Krebstherapie ermöglichen.






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