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Anthropozän Erde im neuen "Zeitalter des Menschen"

Klimawandel, Plastikmüll, Atomtests - der Einfluss des Menschen auf den Planeten ist groß. Warum also nicht das gegenwärtige Erdzeitalter nach dem Menschen benennen? Leben wir im Anthropozän, dem menschengemachten Zeitalter?

Stand: 12.07.2023

Prof. Dr. Jürgen Renn: Das Anthropozän und die Geschichte des Wissens

Eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern rief am 29. August 2016 das Erdzeitalter Anthropozän aus. Der Begriff Anthropozän ist zusammengesetzt aus dem altgriechischen "Ánthropos" für "Mensch" und der Endung "-zän", die von "kainós" abgeleitet ist und "neu" bedeutet.

Anthropozän: Der Mensch in der Erdgeschichte

Anthropozän bezeichnet damit ein neues geologisches Zeitalter, das vom Menschen bestimmt ist. Denn der Mensch greift seit Beginn der Industriellen Revolution vor rund 200 Jahren so massiv in die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde ein, dass die Auswirkungen noch in 100.000 bis 300.000 Jahren zu spüren sein werden. Mindestens so lange dauern die einzelnen Abschnitte in der Erdgeschichte, auch Epochen genannt.

Audio: Was bedeutet der Übergang ins Anthropozän?

Erdgeschichte: Erdzeitalter, Periode, Epoche

Die Erdgeschichte wird unterteilt in vier Erdzeitalter: Erdfrühtum, Erdaltertum, Erdmittelalter und Erdneuzeit. Kürzere Abschnitte werden Perioden genannt, noch kürzere Epochen. Aktuell leben wir in der Erdneuzeit, in der Periode "Quartiär" und der Epoche "Holozän" (auch Nacheiszeitalter genannt), die vor etwa 11.700 Jahren begann. Das Anthropozän würde das Holozän ablösen und erstmals den Menschen als Faktor in der Erdgeschichte ins Spiel bringen. Denn der Mensch ist erst rund 200.000 Jahre alt, Erdzeitalter dauern aber Jahrmillionen.

Anthropozän: Wie wir Menschen Spuren im Gestein hinterlassen

Wann ein neues Erdzeitalter beginnt, lesen Geologen an Gesteinsschichten ab. Ständig entstehen neue Gesteinsschichten und jedes Erdzeitalter hinterlässt darin eine Art Fingerabdruck. Im Labor lässt sich nicht nur feststellen, wie alt ein Gestein ist, sondern auch, wie das Klima zu der Zeit auf der Erde war. Fossilien von Tieren und deren Abdrücke liefern die Spuren, die es zu entschlüsseln gilt. Spuren der Dinosaurier beispielsweise lassen sich bis heute im Gestein feststellen. An ihnen lässt sich auch ablesen, wann die Tiere ausgestorben sind. Fossilien des Archaeopteryx geben beispielsweise Rückschlüsse darauf, wann sich im Laufe der Evolution die Vögel entwickelt haben.

Klima- und Umweltveränderungen: Spuren in Sedimenten

Auch in Höhlen, im Eis, im Meer oder in Korallen können Spuren eines Erdzeitalters zu finden sein. Die Geologen ziehen aus diesen sogenannten Proxydaten auch Rückschlüsse auf Veränderungen von Klima und Wetterphänomenen in den vergangenen Tausenden und Millionen Jahren der Erdgeschichte.

Der Mensch prägt das neue Erdzeitalter über die Umwelt: Durch Umweltschädigungen hinterlassen wir Menschen einen Fingerabdruck in den Gesteinsschichten. Auch neue Stoffe wie Beton, Aluminium oder Kunststoffe finden sich in den Sedimenten. Letztere haben seit den 1950er-Jahren einen rasanten Zuwachs erfahren. Heute produzieren wir Hunderte Millionen Tonnen Plastik pro Jahr. Und das spiegelt sich auch in unseren Böden und in den Meeren wider. Wissenschaftler deuten Sedimente, die eines dieser Materialien enthalten als ein deutliches Zeichen für das Anthropozän.

Nobelpreisträger Paul J. Crutzen prägte den Begriff Anthropozän

Den Begriff Anthropozän brachte der niederländische Chemiker und Atmosphärenforscher Paul J. Crutzen († 2021) im Jahr 2000 ins Spiel. Auf einem Kongress in Mexiko sprach er von einem neuen Zeitalter des Menschen. Während im Holozän die Natur allmächtig ist, hat im Anthropozän der Mensch den Einfluss auf die Erde übernommen. Crutzen erhielt 1995 den Chemie-Nobelpreis für die Erforschung des Ozonlochs.

Spuren des Menschen in der geologischen Erdgeschichte

Der Einfluss des Menschen auf die Erde sei global nachweisbar und teils unumkehrbar, betonte eine internationale Arbeitsgruppe aus 35 Forschern. Die Anthropocene Working Group (AWG) ist eine von der Subcommission on Quaternary Stratigraphy (SQS) eingesetzte Arbeitsgruppe, die untersuchen soll, ob es genügend wissenschaftliche Belege für das Anthropozän gibt.

Am 29. August 2016 plädierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Internationalen Geologischen Kongress im südafrikanischen Kapstadt mit 34 Stimmen und einer Enthaltung dafür, den Begriff einzuführen. 28 Forscher schlugen als Beginn des Anthropozäns die Mitte des 20. Jahrhunderts vor. Ein wichtiges Datum wäre der erste Atombombentest am 16. Juli 1945. Die Folgen lassen sich weltweit auf der Erdoberfläche nachweisen. Wissenschaftler versuchen seither zu klären, welche in den Erdschichten abgelagerten Stoffe als Referenz für das neue Erdzeitalter dienen sollen. Dies könne etwa eine Kombination von Kunststoff, Rückständen aus Atomwaffen-Tests oder Flugasche aus der industriellen Produktion sein, so der Geobiologe und Paläontologe Reinhold Leinfelder von der Freien Universität Berlin, der der Arbeitsgruppe angehört.

Anthropozän in der Diskussion: Entscheidung über das neue Zeitalter

Zunächst fand am 21. Mai 2019 in der Arbeitsgruppe Anthropocene Working Group (AWG) unter den 34 Mitgliedern eine Abstimmung statt. 29 Mitglieder stimmten für den Vorschlag, dem Anthropozän einen offiziellen Status zu verleihen. Jetzt soll die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) entscheiden. Im letzten Schritt muss das Exekutivkomitee der International Union of Geological Sciences (IUGS) den Vorschlag ratifizieren.

Golden Spike: Orte, an denen das Anthropozän ablesbar ist

Bei einem Treffen in Berlin im Mai 2022 widmete sich die AWG einer weiteren Frage: An welchem Ort weltweit sind menschengemachte Veränderungen besonders gut im Gestein ablesbar? Dieser sogenannte "Golden Spike" soll dann als wissenschaftlicher Referenzpunkt dienen. Die aufgestellte Kandidatenliste umfasste unter anderem das Sniezka-Moor in Polen, den Palmer-Bohrkern der Antarktischen Halbinsel, den Wiener Stadtboden oder den Crawford Lake in Ontario, Kanada. In meromiktischen Seen wie dem Crawford Lake vermischen sich die Wasserschichten nicht. Deshalb erhalten sich die Schichten am Boden besonders gut und an den Sedimenten lassen sich Veränderungen während der Erdgeschichte präziser ablesen. Im Schlamm des Crawford Lake lassen sich mittlerweile erhebliche Spuren von Radionukliden und eine deutliche Zunahme von Ruß aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe nachweisen. Auf einer Konferenz in Lille am 11. Juli 2023 verkündete die AWG schließlich offiziell, dass der Crawford Lake in Kanada als "Golden Spike"-Profil und somit als Referenzpunkt für das Anthropozän vorgeschlagen wurde. Die endgültige Entscheidung soll im kommenden Jahr fallen.

Es gibt jedoch auch Geologen, die den Begriff Anthropozän als Zeitalter kritisch sehen oder sogar als unnötig erachten.

"Der Begriff [bringt] für geologische Arbeiten rein gar nichts, [ist] deshalb in der Geologie entbehrlich und wir [brauchen] auch keine Epoche oder [...] Kategorie mit dem Namen Anthropozän."

Manfred Menning, Paläontologe in der Abteilung Klimadynamik und Landschaftsentwicklung am Deutschen GeoForschungsZentrum Helmholtz-Zentrum Potsdam (GFZ)

Anthropozän: Veränderungen in den Erdschichten

Die Veränderungen in den Erdschichten seien sehr dünn und der Zeitraum bisher zu kurz, sagte Kirsten Grimm, Paläontologin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2020 in einem Interview mit dem SWR. Der Wissenschaftlerin zufolge sei sogar das bisherige Holozän mit einem Alter von rund 12.000 Jahren ein sehr kurzer Zeitraum in der Erdgeschichte. Der Begriff Anthropozän sei aber wichtig, um in der Klimadebatte ein Umdenken einzuleiten, ergänzte die Wissenschaftlerin.

Erdzeitalter: Spuren erst in der Zukunft sichtbar?

Deutlichere Spuren des menschengemachten Klimawandels werden wohl in den Erdschichten erst in der Zukunft sichtbar werden. Die Geologie beschäftigt sich jedoch mit der Vergangenheit. Obwohl sich Erdzeitalter über Millionen und Tausende von Jahren erstrecken, können auch geologische Prozesse wie Erdbeben sehr schnell ablaufen. Auch der Klimawandel kann sich verstärken, insbesondere, wenn die Erwärmung eine Schwelle erreicht. Die Geologie stehe deshalb vor der Herausforderung, ihre Methoden an die Gegenwart und Schnelligkeit der Veränderungen anzupassen, sagte Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, in einer Pressekonferenz der AWG im Juli 2023.

Audio: Von Sonne und Regen in Zeiten der Klimakrise

Kritik am Anthropozän: Schuld am Klimawandel nicht gleich verteilt

Kritische Stimmen kommen jedoch auch aus den Geisteswissenschaften: Mit dem Begriff des Anthropozäns könne eine Überschätzung menschlicher Gestaltungsmacht einhergehen. Andererseits gebe er allen Menschen, derzeit mehr als acht Milliarden weltweit, gleichermaßen die Schuld an der Zerstörung der Erde, während in Wirklichkeit unterschiedliche Gruppen in ganz unterschiedlichem Maß an der Verschmutzung des Planeten beteiligt seien. Anstatt neuer Begrifflichkeiten seien vielmehr neue Methoden nötig, um die Herausforderungen der Zukunft anzugehen. In einem 2022 erschienenem Aufsatz kritisieren Wissenschaftlern der Universität Turin in Italien und der Ludwig-Maximilians-Universität München darüber hinaus, dass es auch im Journalismus, sowohl online als auch im Printbereich, an einer kohärenten Diskussion über das Anthropozän mangele.

Anthropozän in der Klimadebatte: Zukunft liegt in unserer Hand

Neben den Spuren in den Erdschichten geht es vielen Wissenschaftlern bei der Überlegung, das Anthropozän einzuführen, auch um ein grundlegendes Selbstverständnis: Das Umweltbewusstsein ist in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen, ebenso das Verständnis von globalen Wirtschaftsmechanismen oder Stoffströmen. Die Klimadebatte und die internationalen Klimakonferenzen sorgen gleichermaßen dafür, dass wir Menschen uns unserer globalen Verantwortung für die Zukunft der Erde bewusster werden. Doch noch folgen auf Einsichten wenig Taten. Laut dem Paläontologen Jürgen Renn sei der Begriff Anthropozän ein interdiszipläneres Konzept: Es schließt den menschengemachten Klimawandel und Verluste von Biodiversität, Ressourcenverbrauch und Müllproduktion sowie Städtebau und Verkehr mit ein. Deshalb seien Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen gefragt. Paul J. Crutzen († 2021), der die Anthropozän-Debatte angestoßen hat, gab der Menschheit einen Ratschlag mit auf den Weg:

"Das heißt nicht, dass jeder versteht, was Anthropozän wirklich bedeutet. Aber ich denke, Wissenschaftler kennen den Begriff und verwenden ihn häufig.

Dafür muss es ja einen Grund geben: Wir Menschen sitzen jetzt am Steuer, was man früher so nicht gedacht hat. Wir sind uns jetzt bewusst, was wir da machen."

Paul J. Crutzen (1933 - 2021), niederländischer Atmosphärenchemiker und Chemie-Nobelpreisträger

Sendungen: Mehr Informationen zum Anthropozän - das Zeitalter des Menschen


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