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Lyrik verstehen Regionalgeschichte in Mundart-Gedichten

Von: Dr. Tabea Kretschmann

Stand: 16.11.2016

Symbol | Bild: Angela Smets/BR

Beschreibe mit eigenen Worten, welche Aspekte der "Heimat-Geschichte" in dem Gedicht "Wohrzeing" von Helmut Haberkamm dargestellt werden.

Wohrzeing

In Wasserschloß droom, doddn, wu bludjunga Hupfer
rumschmusn denna, wussi raang un rumgaagn denna
wäggsd is Groos, noogld der Wind Blädder an die Buchn
die stenna ihrn Mann widdi Stanner im Kerchhof.

Doomools, widdi Leid in der Kerng derneem
bedd hemm un gsunga, wissi der Pfarrer
loos, leedi un frei gsprochn hadd
doo hemmsi, nix wi an Staawurf weid wech
middi Beidschn di Buggl voddi Boolnmänner
bluudi un rissi gschloong.

Des woorn fleißia Kerl, belibbd bei di Bauern.
Sunndooch frieh na sinnsi ums Wasserschloß
driem wonn, hemm gschnaufd un griena.
Am Moondooch nacherdla
wissi Sägg droong hemm solln bein Dreschn
is na is Bluud in offna Buggl noogschossn.
Du lieber Godd, sinn di Maadn doo derschroggn!

Ihre Beidschn hemmsi pfaldn noochn Griech
ihre brauna Glamoddn verraamd, Gwehrer vergroom
sinn Kerngvorständ un Gmaaräd wonn
woorn widder in der Baddei
sinn Händler un Bauern bliem
un hemmsi schwazz gärcherd
iebern verlorna Griech.

(aus: Helmut Haberkamm: Frankn lichd nedd am Meer. 77 Gedichte in fränkischer Mundart. Mit einem Nachwort von Fitzgerald Kusz, Cadolzburg, 1992, S. 22)

Es wird berichtet, wie in der NS-Zeit sonntags, während die meisten Dorfbewohner den Gottesdienst besucht haben, einige Männer aus dem Dorf polnische Zwangsarbeiter bei einem Wasserschloss mit Peitschen umhergetrieben und ihre Rücken blutig geschlagen haben. Die Polen waren fleißig und beliebt bei den Bauern.

Am Montag dann, als die Zwangsarbeiter die Säcke beim Dreschen tragen sollten, ist ihnen das Blut den Rücken hinunter gelaufen – und die Mädchen haben sich bei diesem Anblick erschreckt.

Nach dem Krieg haben die Täter ihre Peitschen behalten, die braune Kleidung weggeräumt, die Gewehre behalten. Sie sind Kirchenvorstände und Gemeinderäte geworden, sie waren wieder in der Partei, sind Händler und Bauern geblieben und haben sich über den verlorenen Krieg "schwarzgeärgert".

Das Mundart-Gedicht wirft einen kritischen Blick auf die lokalen Geschehnisse in einem Dorf zur und nach der NS-Zeit. Auch das vertraute Umfeld war in die unmenschlichen Geschehnisse der Zeit verstrickt. In dem Gedicht wird angeklagt, wie in der NS-Zeit Menschen andere Menschen misshandelt haben, ohne dass es danach zu einer kritischen Aufarbeitung gekommen wäre. Die Karrieren konnten schlicht fortgesetzt werden.

Beschreibe mit eigenen Worten, welche Aspekte der "Heimat-Geschichte" in dem Gedicht "Dr Herrgott" von Gottlob Haag dargestellt werden.

Dr Herrgott

E' uralder Mou is er,
mit en lange, schnäeweiße Boert,
der alles sicht und waaß,
hat mir früher
mei' Großmueder verzeiihlt.

I hob's ere glaabt,
lang glaabt,
bis zu denn Dooch,
wu i' en uralde Mou
mit'n lange, schnäiweiße Boert
uff' dr Schtroeße gseeche hob.
Zwische e' boer Soldate
Is' er drhiitorchlt.
Sie hewe uff' en neiigschlooche
und gschriee:
'Gäehzue und laaf,
du schtinketer Jud!'

Sie hewe'n eiigschperrt,
gfoltert und drangsaliert
und er hat niee gjammert
und kloocht,
aa nit, wu's 'en
doetgschlooche hewe.

E' uralter Mou
wäer dr Herrgott,
der alles sicht und waaß,
mit 'en lange,
schnäeweiße Boert,
hat mir mei' Großmueder
verzeiihlt.
Und i' hob's gseeche,
wie's 'en doetgschlooche hewe.

(aus: Helmut Haberkamm: Viel zu bieten, viel zu beklagen. Ausflüge in die fränkische Gegenwartsliteratur, in: Frankenland. Zeitschrift für fränkische Landeskunde und Kulturpflege, 3, Juni 2001, S. 249)

Das sprechende Ich hat, vermittelt von der Großmutter, die Vorstellung von Gott als einem alten Mann mit weißem Bart. Während der NS-Zeit sieht und erfährt das lyrische Ich, wie ein alter Mann, der offenbar seinen Vorstellungen vom "Herrgott" entspricht, drangsaliert und schließlich getötet wird. Die Schlussfolgerung, die das Ich zieht, ist, dass Gott selbst erschlagen wurde.
Das Gedicht thematisiert und verbildlicht, wie durch die Geschehnisse im Dritten Reich der Glaube an einen "lieben Gott" verloren ging.