Nostalgie Warum wir so gern nostalgisch sind und wofür das gut ist
Lassen euch knallbunte Kaugummis, rosa Rollschuhe oder Songs aus eurer Kindheit in Erinnerungen schwelgen? Warum sind wir nostalgisch? Wir erklären euch, warum Nostalgie glücklich macht und was die Sehnsucht nach gestern mit der Gegenwart zu tun hat.
Beispiele für Nostalgie: Welche Retro-Trends uns gerade nostalgisch werden lassen
"Wisst ihr noch ... damals?" Erinnert ihr euch an Süßigkeiten wie knisterndes Brausepulver, knackendes Esspapier, knallbunte, zuckersüße Kaugummis oder die Comic-Figuren, die Brausebonbons ausspucken? Werdet ihr bei Kinderspielzeug aus den 1980er- und 1990er-Jahren wie Flummies, Gummitwist, Trollschlüsselanhängern mit bunten Haaren oder den kleinen Plastikfernsehern, die beim Klicken eine Märchengeschichte zeigen, nostalgisch? Stimmen euch Erinnerungen an den Vanillepudding oder die Rote Grütze, die es bei euren Großeltern gab, wehmütig? Oder denkt ihr bei bestimmten Songs an die Zeit, als es noch Kassetten, Walkmans oder CDs gab? Kultsongs wie "Yesterday" von den Beatles, "Summer of '69" von Bryan Adams oder "Cello" von Udo Lindenberg drehen sich um das Phänomen der Nostalgie selbst. Vielleicht denkt ihr auch nostalgisch an "diesen" einen Sommer zurück? Viele Menschen erinnern sich mit einem Gefühl der Nostalgie an die Vokuhila-Frisuren oder Dauerwellen der Achtzigerjahre, die schrillen Blümchenmuster in der Mode in den Neunzigerjahren oder die Hüfthosen der Nullerjahre.
Retro ist Trend: Feiert ihr 90er-Partys oder postet auf Social-Media unter dem Hashtag "#MeAt20" alte Fotos von euch? Dokumentationen über den Musiksender VIVA oder die Band "ECHT" aus den Neunziger- und Nullerjahren lassen Nostalgie aufkommen. Auch Serien wie "Babylon Berlin" haben die Vergangenheit zum Thema. Oder schaut ihr die Neuverfilmung von "Pumuckl" mit euren Kindern und denkt dabei an eure eigene Kindheit zurück? Manchmal wecken auch Filme wie Barbie und ihre rosa Rollschuhe, Plateauschuhe oder Modeschmuck wie enge Tattoohalsketten ambivalente Erinnerungen an früher.
Audio: Warum wir uns nostalgisch an die Vergangenheit erinnern
Definition Nostalgie: Woher das Wort 'nostalgisch' kommt
"Nostalgie bezeichnet heute die Sehnsucht nach dem Vergangenem, dem als besser vorgestellten Früher", erklärt Dr. Tobias Becker, Historiker an der Freien Universität Berlin und Autor des Buches "Yesterday. A New History of Nostalgia". Die Bedeutung des Begriffs Nostalgie unterlag selbst einem Wandel: Er geht auf die altgriechischen Wörter 'nostos' und 'algos' zurück, die auf Deutsch 'Rückkehr' und 'Schmerz' bedeuten. Der Begriff Nostalgie wurde 1688 vom Schweizer Medizinstudenten Johannes Hofer geprägt. Er verwendete den Begriff Nostalgie, um das Heimweh von Soldaten zu beschreiben. "Im Laufe des 20. Jahrhunderts verlor der Begriff diese medizinische Bedeutung. Nostalgie bekam zunächst im anglo-amerikanischen Raum eine zeitliche Dimension und wurde zunehmend umgangssprachlich genutzt", erläutert Tobias Becker. Das Gefühl von sentimentalen Erinnerungen und gleichzeitiger Wehmut über die Vergänglichkeit wird im Englischen durch den Ausdruck "bittersweet memories" (auf Deutsch: bittersüße Erinnerungen) deutlich.
Video: Die Vorteile von Nostalgie
Nostalgie als Emotion: Was bedeutet es, nostalgisch zu sein?
Bittersweet memories: Kaugummiautomaten mit Plastikspielzeug gab es früher häufiger auf Bürgersteigen.
Inzwischen geht man davon aus, dass Nostalgie eine vielseitige Emotion ist, die positive Effekte hat und durch Musik, Filme, ein Familien- oder Urlaubsfoto, einen Geruch oder einen bestimmten Geschmack ausgelöst werden kann. Im Gegensatz zur Reminiszenz, also dem bloßen Erinnern, ziehen wir bei der Nostalgie den Vergleich zur Gegenwart. Unser Gehirn blendet dabei die negativen Erinnerungen häufig aus. Laut dem Psychologen Frank McAndrew von der Universität Maine in den USA hat das evolutionsbiologische Gründe: Im Jugendalter wurden besonders viele bedeutende und prägende Erfahrungen gemacht. Deshalb behalten wir uns auch heute noch die emotionalen Ereignisse aus unserer Kindheit und Jugend besser in Erinnerung. Der positive Effekt, den wir verspüren, wenn wir nostalgisch sind, unterscheidet Nostalgie auch von der Melancholie, die einen Zustand von Schwermut bezeichnet. Jemand kann aber auch nostalgisch an eine Zeit denken, die er nicht erlebt hat: Zum Beispiel, wenn jemand glaubt, dass es ihm zu einer anderen Zeit besser gegangen wäre. "Werden Modetrends wie Plateauschuhe oder bauchfreie Tops aus den 1990er-Jahren, die man in den vergangenen Jahren wieder häufiger sah, ohne politischen oder kulturellen Kontext in die Gegenwart übertragen, eignet sich jedoch eher der Oberbegriff Retro", erklärt der Historiker Tobias Becker.
Video: Warum Nostalgie hilfreich ist
Nostalgie, die Sehnsucht nach Früher: Darum sind wir nostalgisch
In chaotisch und unsicher empfundenen Zeiten kann Nostalgie eine Bewältigungsstrategie sein, durch die man die zerbrochengegangene Kontinuität wiederherstellen möchte. Von dem Phänomen der Nostalgie, wie wir den Begriff heute verstehen, war erstmals in den 1970er-Jahren die Rede. Vor allem in den USA kam es zu einer "Welle der Nostalgie". 1979 erschien auch die erste großangelegte Studie "Yearning from Yesterday" des US-amerikanischen Soziologen Fred Davis. Er stellte fest, dass Nostalgie mit positiven und negativen Gefühlen wie Liebe, Eifersucht und Angst in Verbindung steht. Dass gerade in den 1970er-Jahren das Phänomen der Nostalgie populärer wurde, hängt Davis zufolge mit den tiefgreifenden soziokulturellen Veränderungen in der Gesellschaft in dem vorangegangenen Jahrzehnt zusammen: In den 1960er-Jahren veränderten sich die Mode, die Musik und Ansichten in Hinblick auf Geschlecht und Sexualität. "Dieser Wandel in vielen Bereichen löste Überforderung und Desorientierung in Teilen der Gesellschaft aus. Auch in der Popkultur machte sich das bemerkbar: Teile der Jugend besinnten sich auf die vorgeblich einfachere Zeit der 1950er-Jahre, insbesondere auf den Rock 'n' Roll. Daraus entwickelte sich dann der Punkrock", erklärt Tobias Becker. Die Retrowelle erklärt die Beliebtheit von Musicals wie "Grease" bei Teilen der Jugend in den 1970er-Jahren, deren Handlung in den 1950er-Jahren spielt. "Der Spruch 'Früher war mehr Lametta' aus dem Loriot-Sketch ironisiert das Phänomen der Nostalgie geradezu", ergänzt der Historiker.
Filmklassiker und Kultsongs: Warum besonders an Weihnachten und Ostern Nostalgie aufkommt
Hört ihr in der Adventszeit den Kulthit "Last Christmas" von Wham! in Dauerschleife? Schaut ihr jedes Jahr an Weihnachten "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel", am Silvesterabend "Dinner for One" und Historienfilme an Ostern? Das zeigt: Medien spielen im Kontext von Nostalgie eine entscheidende Rolle. Sie übermitteln Erinnerungen an die Vergangenheit in Form von alten Filmen, Songs, Bildern oder Büchern, die einige von uns nostalgisch werden lassen. "Da die Kirche an Bedeutung verloren hat, pflegen Familien andere Rituale und Traditionen, die Stabilität geben können. Statt in die Kirche zu gehen, setzen sich viele Familien dann jedes Jahr an Weihnachten oder Silvester zusammen vor den Fernseher und schauen Filmklassiker. Andere wiederum sind davon eher genervt", erklärt Nostalgie-Experte Tobias Becker.
Kassetten und Schallplatten: Darum lassen uns manche Objekte nostalgisch werden
Einfach mal zurückspulen? Nostalgie gilt als das Gegenteil von Fortschritt. Nostalgie kann aber eine positive Wirkung haben.
Medien können aber auch Objekte der Nostalgie sein: Den Trend zu Retro-Kameras oder Kassetten bezeichnen Medienwissenschaftler als "analoge Nostalgie". Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung: Die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones und neue Medien kann als Druck und Stress empfunden werden. Untersuchungen der Universität Augsburg aus dem Jahr 2017 legen nahe, dass das nostalgische Erinnern an vergangene Zeiten sogar helfen kann, mit den Belastungen des Medienwandels umzugehen und seinen Anforderungen gerecht zu werden.
Positive und negative Nostalgie: Macht Nostalgie glücklich?
Nostalgie wird häufig mit negativen Eigenschaften assoziiert: Das Schwelgen in der Vergangenheit gilt als das Gegenteil von Fortschritt und könnte uns davon abhalten, Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen. Nostalgie gilt auch als weniger rational und als die Vergangenheit verklärend. Das ist aber nur ein Aspekt der Nostalgie. "Der Begriff ist vielseitig", erklärt der Historiker Tobias Becker. Ist jemand nostalgisch, übe er auch Kritik am Status quo und wünsche sich etwas für die Gegenwart und die Zukunft.
Wissenschaftler der Forschungsgruppe Nostalgie an der Universität Southampton in Großbritannien konnten durchaus positive Folgen von Nostalgie nachweisen. Vor allem im Vergleich zum Grübeln überwiegen bei nostalgischen Erinnerungen die positiven Effekte. Demzufolge sind Menschen insbesondere dann nostalgisch, wenn sie in einer negativen Stimmung sind. Nostalgie kann dafür sorgen, dass es ihnen besser geht. Demnach wirkt Nostalgie auch positiv auf das Selbstwertgefühl, da das nostalgische Erinnern Erfolgserlebnisse des früheren Ichs ins Gedächtnis ruft. Deshalb kann Nostalgie sogar bei Prüfungsangst helfen.
Das Schwelgen in der Vergangenheit kann außerdem dazu führen, dass wir uns weniger langweilen. Reden wir gemeinsam über vergangene Zeiten, kann das Nähe zwischen Menschen herstellen und verbindend sowie identitätsstiftend wirken. Nostalgie soll außerdem Einsamkeit lindern und dafür sorgen können, dass wir resilienter und optimistischer sind. In Paarbeziehungen führt das nostalgische Erinnern, zum Beispiel an gemeinsame Urlaube oder den gemeinsamen Lieblingssong, häufig zu mehr Zufriedenheit. Und auch in der Eltern-Kind-Beziehung spielt Nostalgie eine Rolle: Nostalgische Eltern führen Familientraditionen und Rituale im Kontext von sozialen Normen und Gewohnheiten eher fort und geben sie an ihre Kinder weiter. Zum Beispiel, wenn Familien sonntags einen Kuchen gemeinsam backen oder einen Sonntagsspaziergang machen. Das könne innerhalb der Familie identitätsstiftend wirken und das Zugehörigkeitsgefühl des Kindes zur Familie fördern.
Die positiven Effekte des nostalgischen Erinnerns sind jedoch häufig nur kurzfristig. Seid ihr einsam oder hadert mit eurer Situation, wird euch der verklärte Rückblick in die Vergangenheit auf Dauer nicht helfen. Stattdessen solltet ihr nach Möglichkeiten suchen, eure Situation im Hier und Jetzt oder in Zukunft zu verbessern. Verliert ihr euch in der Sehnsucht nach der Vergangenheit, gleitet ihr in negative Gedankenspiralen ab oder leidet unter Depressionen, solltet ihr euch psychologische Hilfe suchen.
Interview: Historiker Tobias Becker über Nostalgie
Wir haben den Historiker Tobias Becker von der Freien Universität Berlin gefragt, warum Nostalgie nicht nur um die Vergangenheit kreist und was das nostalgische Erinnern mit der Gegenwart zu tun hat.
ARD alpha: Sind wir in Zeiten von Krisen wie dem Klimawandel und Kriegen nostalgischer?
Tobias Becker: Es gibt keine Dekade seit den 1970er-Jahren, in denen wir nicht nostalgisch waren. Nostalgie fällt uns nach Phasen der Veränderung nur besonders auf. Das Phänomen der Nostalgie wurde in den letzten Jahrzehnten durchweg thematisiert. Werden wir älter, haben wir mehr Erinnerungen, weshalb ältere Menschen oft nostalgischer sind. Aber auch junge Menschen können nostalgisch sein: Zum Beispiel, wenn Paare an den ersten gemeinsamen Urlaub denken.
Verklären Nostalgiker die Vergangenheit zu sehr?
Die sentimentale Sichtweise auf die Vergangenheit ist die umgekehrte Art und Weise, wie Historiker arbeiten: Die Geschichtswissenschaft möchte die Vergangenheit erklären, um die Gegenwart besser zu verstehen. Tatsächlich birgt Nostalgie die Gefahr, dass die Vergangenheit verklärt und negative Aspekte ausgeblendet werden. Zum Beispiel die Vorherrschaft des Mannes, Frauenrechte, die früher stark eingeschränkt waren, oder der Kolonialismus.
Besteht die Gefahr, dass der Begriff Nostalgie instrumentalisiert wird?
Der Begriff Nostalgie wird auch instrumentalisiert. Zum Beispiel, wenn jemand von Nostalgie und einem "besseren Früher" spricht, aber eigentlich Rassismus, die Unterdrückung der Frau, von Minderheiten oder der LGBTQ-Community meint.
Der Begriff Nostalgie ist also negativ behaftet?
Nostalgie ist ein vieldeutiger, keinesfalls neutraler Begriff. Nostalgie wird oft als das Gegenteil von Fortschritt und als Vorwurf verwendet: Nostalgiker hätten ein falsches Verhältnis zur Zeit, rückwärts- anstatt vorwärtsgewandt. Psychologische Studien legen nahe, dass nostalgische Erinnerungen Einsamkeit lindern und dazubeitragen können, besser mit der Gegenwart zurechtzukommen.
Häufig wird Menschen zugeschrieben, nostalgisch zu sein. Wenn Ostdeutsche gerne Musik hören, mit der sie aufgewachsen sind, gilt das als weniger legitim, als wenn Westdeutsche dies tun. Die sogenannte "Ostalgie", also die Faszination und Verherrlichung von Produkten aus der ehemaligen DDR, ging jedoch oft eher von Westdeutschen aus.
Wenn Nostalgie als das Gegenteil von Fortschritt gilt, was kann Nostalgie zur Gegenwart und Zukunft beitragen?
Nostalgie hat ein kritisches Potenzial: Sie bringt zum Ausdruck, dass in der Gegenwart etwas vermisst wird. Ist jemand nostalgisch, ist das Ausdruck davon, dass man sich etwas für die Zukunft wünscht und versucht, das herzustellen. Etwas aus der Vergangenheit kann aber auch in der Gegenwart oder Zukunft neu interpretiert werden. Nostalgie kann daher auch eine utopische Dimension besitzen. Wir bedienen uns kreativ der Vergangenheit, um uns in der Gegenwart zu orientieren. Dabei kann auch etwas ganz Neues entstehen, wie wir es in der Kunst und in der Musik häufig sehen.
Quellen und Sendungen: Hier findet ihr mehr Infos über Nostalgie
Quellen:
- Übersichtsseite der Forschungsgruppe Nostalgie der Universität Southampton (University of Soutampton, GB, 2023)
- Studie über Nostalgie, ihre Auslöser und positiven Effekte (University of Southampton, GB, 2023)
- Studie über Nostalgie und Einsamkeit (University of Southampton, GB, 2023)
- Studie über Nostalgie, Optimismus und Resilienz (Duke Universität, USA, 2022)
- Studie über romantische Nostalgie und Paarbeziehungen (Universität Texas, USA / Universität Houston, USA / Universität of Southampton, GB, 2022)
- Studie über Nostalgie und Eltern-Kind-Beziehungen (University of Southampton, GB / Peking University, China, 2023)
- Studie über die Geschichte der Nostalgie (University of Minnesota, USA, 2014)
- Studie über Mediennostalgie und Medienwandel (Universität Augsburg, 2017)
- Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur (Universität Passau, 2017)
- Studie von Fred Davis über die Nostalgie-Welle in den 1970er-Jahren: Yearning from Yesterday. A Sociology of Nostalgia. (1979)
- Artikel der Washington Post über Nostalgie und Evolutionsbiologie, 2016
Sendungen:
- "Wird alles immer schlimmer? Wie wir Vergangenheit und Gegenwart wahrnehmen": IQ - Wissenschaft und Forschung, Bayern 2, 19.11.2024, 11.10 Uhr
- "Back to the 90's: Die App 'Epik' und die derzeitige Erfolgswelle der Nostalgie": SWR2 am Samstagnachmittag, 11.11.2023
- "Früher war mehr Lametta: Was ist euer schönster Loriot-Moment?": Tagesgespräch, ARD alpha, 08.11.2023
- "Stimmt's, dass sich Nostalgie auf eine Zeit beziehen kann, die man nie erlebt hat?": Stimmt's, radioeins, rbb, 19.10.2023
- "Nostalgie - Über ein ambivalentes Gefühl": Zeitfragen, Feature - Deutschlandfunk Kultur, 09.02.2023
- "Nostalgie - Der Traum vom besseren Gestern": radioWissen, Bayern 2, 18.01.2023, 09.05 Uhr
- "Nostalgie-Effekt": Quarks Daily - Dein täglicher Wissenspodcast, WDR, 08.03.2022
- "Das Spiel mit der Nostalgie": Cinema Strikes Back, funk, das Erste, 01.02.2022
- "Warum tut Nostalgie gut?": Live nach Neun, Das Erste, 25.04.2019, 09.05 Uhr