Verfälschung, Manipulation, Klischees Fakten
Manipulation, Verfälschung und Klischees können überall vorkommen, wo Realität vermittelt wird, sei es durch Wort, Bild oder Ton oder eben eine Kombination dieser vermittelnden Instanzen.
Virulent wurde das Problem der Manipulation und Verfälschung immer dann, wenn neue Techniken und Medien entstanden, die eine serielle, auf Wiederholung angelegte Repräsentation des Wirklichen ermöglichten. Denn damit ging meist eine Vereinfachung, Typisierung oder gar Verflachung einher. Dies ist keine Besonderheit unserer gegenwärtig so beliebten Soap-Operas, sondern immer schon der von Kulturpessimisten beklagte Tribut für eine breitere, auf Wiederholung angelegte Vermittlung des Wirklichen.
Das war schon so im Mittelalter, als der Holzschnitt erfunden wurde: Einfache und leicht verständliche Bildergeschichten ersetzten zunehmend die individuell hergestellten Unikate, die bis dahin die Bibel für die kleine Schicht der Gelehrten zierten. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde die Heilige Schrift den breiteren Massen zugänglich und passte sich in Gestaltung und Sprache zugleich mehr dem Durchschnittsgeschmack und der durchschnittlichen Auffassungsgabe der Zeit an. "Die Geschichte der Serienproduktion beginnt im Mittelalter", erinnert Harald Martenstein, bevor er das "Serielle als Prinzip des Fernsehens" gegen die Gegner der Massenkultur stark macht (siehe ABC des Fernsehens S. 254ff.). "Sendungen, die zu großen Erfolgen werden, beruhen auf dem Prinzip der Wiederholung, ob es sich um eine Show wie Wetten, dass ...? handelt, die Tagesschau oder ein politisches Magazin wie Report. Das Fernsehen ist zu schnell, zu flüchtig, was nur einmal kommt, das versendet sich." (ebd. S.255)
Die Serie in diesem weiteren Sinn, der auch Tagesschau, Tatort und Soap-Operas umfasst, entspricht dem Bedürfnis nach Kontinuität und Wandel zugleich, dem Bedürfnis, das stets Wechselnde in einem stabilen Horizont zu erfahren, der ihm Sinn verleiht. Bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Serien und den in ihnen waltenden Klischees sei betont: Wer diese Rolle der Serien im weiteren Sinne, den Einzelnen zu einem akzeptablen Selbst- und Weltverständnis zu verhelfen, vernachlässigt, verfehlt auch den Kern, nämlich Sinn und Reiz der Serien im engeren Sinne. Von der "Typisierung der Handlungselemente" über die "Verflechtung der Handlungsstränge und Problemkreise" bis zur "Wiederkehr ähnlicher oder gleicher Ereigniskonstellationen" bei "Unabgeschlossenheit oder prinzipieller Wiederholbarkeit der Konflikte" (Mediengeschichte S.265) ist die Dramaturgie von Fernsehserien auch nicht etwa die Erfindung von Fernsehmachern, die es auf die Verdummung der Massen angelegt haben. Sie entstammt vielmehr einem althergebrachten Erzählmuster, das mit relativ konstantem Personal durch die Wirrungen von Welt und Leben führt. Dieses Erzählmuster ist einem aus den Internatsromanen der Jugend vertraut oder auch aus Wagners Ring des Nibelungen und Thomas Manns Joseph-Tetralogie. Das Entscheidende dabei ist der Serien-Sog, durch den die Leser oder Zuschauer für eine Weile am dargestellten Leben anderer teilnehmen, sei dies nun emotional involviert oder mit kritischer ironischer Distanz.
Wie jedes Klischee davon lebt, dass es nicht nur das Reale verleugnet, sondern auch etwas Wahres oder zumindest Treffendes entdeckt, so leben auch die Serien davon, dass sie einem das Sinnen und Trachten anderer nahe bringen und – sei es nun plakativer oder differenzierter – verständlich und nachvollziehbar machen. Soap-Operas, unsere Serien sind, wie Volker Matthies bemerkte, der Knigge von heute.
1979 verhalf eine vierteilige TV-Serie, der amerikanische Film Holocaust, der breiten Öffentlichkeit in Deutschland dazu, ihrer bislang "erfolgreich" verdrängten Vergangenheit ins Auge zu sehen. Und dies geschah, obwohl der Film keineswegs ein unumstrittenes Dokument jüdischen Leidens war, im Gegenteil: Er verwandelte, wie der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel damals kritisierte, ein "ontologisches Ereignis in eine Seifenoper" (siehe Mediengeschichte S.661).
Der Familie Weiss, die das "typische" Schicksal jüdischer Holocaust-Opfer erleidet, wird in dieser Serie die Familie des Täters und SS-Mannes Eric Dorf gegenübergestellt. Alles ist darauf angelegt, dass man mitbetroffen die persönlichen Schicksale nacherlebt. Die Holocaust-Serie ist fiktiv und exemplarisch, sie lebt auch von Klischees und Schwarzweißmalerei.
Und dennoch oder gerade darum entzündete sie eine breite öffentliche Diskussion, durch die diese Serie zu einem Exemplum politischer Bildungsarbeit wurde. Obwohl sie in den Dritten Programmen der ARD gesendet wurde, erreichte sie Einschaltquoten zwischen 31 und 41 Prozent. Noch die Wiederholung 1982 stieß auf eine enorme Resonanz, sei erreichte einen Marktanteil von 16-30 % (vgl. Mediengeschichte S.661).
Serien, selbst solche auf niedrigerem Niveau, können also, wenn man über sie und ihre Zuschauer nicht hochnäsig die Nase rümpft, sondern über den Wahrheits- und Falschheitsgrad ihrer Klischees und sonstigen Botschaften einen Streit (ob öffentlich, unter Freunden oder in der Familie) entfacht, von größerem Erkenntnis- und Bildungswert sein, als so manches abgehobene Kulturjournal. Man muss nur über sie und ihren Wirklichkeitsgehalt diskutieren. In solchem Diskurs allein entfaltet sich und gedeiht Kommunikationskompetenz, und nicht im Ausschluss der vermeintlich Verdummenden und Verdummten.
Literatur:
- Ruth Blaes, Gregor Alexander Heussen (Hg.): ABC des Fernsehens. Konstanz 1997.
- Jürgen Wilke (Hg). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 361, Bonn 1999.