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Verfälschung, Manipulation, Klischees Kontrovers

Manipulation kann sich auch durch die fiktionale Hintertür einschleichen. Wie können wir uns dieser Manipulation entziehen? Verändert sie auch unsere Wahrnehmung?

Stand: 12.10.2011 | Archiv

Bei vielen Soziologen, Medienwissenschaftlern und Medienkritikern geht die Manipulationsthese noch viel weiter: Sie meinen, das Fernsehen insgesamt, nicht bloß die Daily Soaps und Talks, sei "zum Verkörperer des Realitätsprinzips in der modernen Gesellschaft geworden" (Siegfried J. Schmidt, zitiert nach Mediengeschichte S. 270f.). Die Frage, inwieweit die Medien, insbesondere das Fernsehen, unsere Welt- und Selbsterfahrung manipulieren, entzweit auch unsere prominenten Vertreter der Gegenwartsliteratur in Kulturpessimisten, wie wir sie überspitzt nennen wollen, und Kulturrealisten.

Kulturpessimisten

Die Kulturpessimisten beklagen, den "fast vollständigen Bedeutungsverlust von Literatur im öffentlichen Raum" angesichts der Dauerberieselung des Fernsehens, der sich nur 2% der Bevölkerung entziehe (Norbert Niemann und Wolfgang Matz: in Akzente 46 S. 97). Sie meinen, die "Diktatur des medialen Schwachsinns" (Georg M. Oswald ebd. S.121) wirke sich auch massiv auf die deutsche Gegenwartsliteratur aus, die von der Kritik als "neuer Realismus" und Wiederentdeckung des Erzählens gefeiert werde, z.B. in den Simple Storys von Ingo Schulze. Gegen die Zelebrierung des "neuen Realismus" wendet Kulturpessimist Niemann ein: "Überall wird von der Wirklichkeit erzählt, und es ist vor allem das Fernsehen, das uns – wie jeder weiß – seine Fiktionen von der wirklichen Welt als wirkliche Welt aufzwingt, nach denen wir uns wiederum unser Bild von ihr schaffen. Je mehr mediale Vermittlung von Realität, desto fiktionaler dieses Bild und desto größer die Bedeutung der ästhetischen Regeln, mit denen auf Realität zugegriffen wird. Alles Erzählen erhebt Anspruch auf Wirklichkeit." (Norbert Niemann, SZ vom 21./22.10.2000) Niemann wirft den gefeierten "neuen Realisten" vor, dass sie sich nicht vom medialen "Markt der Wirklichkeiten" distanzieren und ihn nicht kritisch reflektieren. Dass sie dem "Pomp der medial aufgemotzten Wirklichkeit" erliegen und mit ihren Büchern bloß noch tausendfach abgespeicherte Fernsehbilder des Realen evozieren. Ihre gepriesene "Welthaltigkeit" sei Lüge, wie Niemann am Wenderoman von Michael Kumpfmüller zu demonstrieren sucht, dem es nicht gelinge, "eine Differenz zwischen der massenmedial simulierten und der literarisch fingierten Realität herzustellen." Niemann fordert: "Die Aufgabe und die Anmaßung der Literatur aber muss es bleiben, jenseits der Weltdefinitionen auf dem massenmedialen Markplatz der Realitäten die Welt noch einmal neu zu definieren."

Kulturrealisten

Die Kulturrealisten bestreiten erstens die massive Manipulationsthese, und erinnern zweitens daran, dass uns das Fernsehen Welt erschließt. Sie räumen zwar ein, dass das Fernsehen "in der Tat immer blöder" wird (Ralf Bönt, SZ vom 28./29.10.2000), verteidigen aber entschieden den Punkt, den die Kulturpessimisten unter unseren Gegenwartschriftstellern so gern vergessen: dass das Fernsehen wie alle Massenmedien uns mit Regionen, Gegebenheiten und Sachverhalten unserer Welt bekannt macht, die uns ohne sie ganz verschlossen blieben. So kontert Ralf Bönt gegen Niemanns Generalangriff aufs Fernsehen: "Zwingt es uns etwas auf?" Er weist im Blick auf Amerika, wo das Fernsehen noch viel schlechter sei als hier, darauf hin, dass die Informiertheit der Bürger dadurch keineswegs geringer sei. Das hieße aber, dass die Fähigkeit zum Filtern des Angebots in dem Grade wächst, wie das Angebot sich vergrößert und verschlechtert. Das Fernsehen ist kein "Entmündigungsautomat", sondern sorge – wie die anderen Massenmedien auch – für eine bessere Informiertheit aller. "Weil wir ohne Medien mit mehr Aufwand weniger Erfahrungen machen würden, deshalb sind sie da." Die Kulturrealisten setzen auf eine Pluralität des kulturellen Angebots, in dem die so genannte U-(nterhaltungs) Literatur und Kultur genauso legitim ist wie die E-(rnste) Literatur und Kultur. Gefordert wird die gegenseitige Akzeptanz von Mehr- und Minderheit, von Massenkultur und elitärer Minderheitenkultur. "Die Menschen sind halt doch zu verschieden, nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch in ihren Bedürfnissen. Während für den einen die Talkshow notwendige Bereicherung im unerträglich leeren Zimmer ist, erfüllt für den anderen die Gesamtausgabe von Trakl diese Funktion." (Bönt ebd.) Niemanns Generalangriff auf die Massenmedien erscheint in den Augen der Kulturrealisten als verkappter Wille zur Macht: Er "diffamiert die Massenkultur als dumm und enthält keinen Respekt vor dem Konsumenten. Dessen Autorität wird negiert – und dieser Künstler will befreien, "wen er zuerst für unmündig erklärt hat." (Bönt ebd.)

Die bei Soziologen und sonstigen Menschheitsbefreiern so beliebte Manipulationsthese hat Hans Magnus Enzensberger bereits 1988 in seinem Aufsatz über das Fernsehen als Nullmedium stilistisch meisterhaft zu widerlegen versucht: Die These, das Fernsehen manipuliere und bringe die Konsumenten dazu, das Gezeigte nachzuahmen oder Reales vom Fiktiven nicht mehr unterscheiden zu können, mündet für ihn in der "Verblödungsthese". Dieser fehlten nicht nur die Beweise, sondern auch alle Plausibilität: "So ist es, um nur ein Beispiel zu nennen, bisher niemandem gelungen, uns außerhalb der psychiatrischen Klinik auch nur einen 'Fernsehteilnehmer' vorzuführen, der außerstande wäre, zwischen einem Ehekrach in der laufenden Serie und an seinem Frühstücktisch zu unterscheiden." (Enzensberger S.91)

Literatur:

  • Jürgen Wilke (Hg). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe Band 361, Bonn 1999.
  • Akzente. Zeitschrift für Literatur. Hg. v. Michael Krüger. 46. Jahrgang, Heft 2 München 1999
  • Hans Magnus Enzensberger. Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt 1991

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