Medienveränderung Übung
Machen Sie mit!
Frage
Im Chatroom kann jeder sein, was und wie er im wirklichen Leben nie war oder sein konnte und könnte. Aus dem Nichts kann man sich eine feine virtuelle Identität zulegen, jenseits der Erdenschwerde der persönlichen Biografie mitsamt all ihren Verwicklungen, Verpflichtungen oder Bindungen.
Wer die Nettikette, den Verhaltenskodex des einen Chatrooms verletzt, wechselt einfach in einen anderen. Wer sich beim Flirt mit seiner großen Liebe zu dämlich angestellt hat, aber von ihr nicht lassen kann, probiert’s unter neuem "Nickname" einfach noch einmal. Ob dieses fantastische Spiel mit der eigenen Identität eine Erweiterung der Persönlichkeit oder eine Flucht aus der Faktizität des wirklichen Lebens ist, bleibe offen.
Es gibt indes einen berühmten deutschsprachigen Schriftsteller, der in seinen Werken immer wieder genau das machte, was nun jeder im Chatroom kann: Er suchte der unwiderruflichen Faktizität des wirklichen Lebens zu begegnen durch das Spiel mit den unterschiedlichsten Geschichten und Identitäten. Schon in manchen Titeln kündigt der Autor an, dass es um ein Spiel mit der Identität geht. Kennen Sie ihn?
Antwort
Gemeint ist Max Frisch (geboren 15.5.1911 in Zürich, dort gestorben am 4.4.1991).
Vor allem in seinen großen Romanen Stiller (1954) und Mein Name sei Gantenbein (1964) – das sei kündigt schon an, dass der Rollenwechsel hier Programm ist – steht das Problem im Zentrum, wie das Ich mit seiner eigenen unwiderruflichen Geschichte umgehen kann. In dem Theaterstück Biografie: Ein Spiel, das 1967 erschien, lässt Frisch seinen Protagonisten die Zeit immer wieder zurückdrehen. Er gibt ihm die Gelegenheit, an entscheidenden Stationen seines Lebens einen anderen Weg einzuschlagen, eine ganz andere Geschichte zu haben. Sein Akteur versucht es immer wieder, macht aber, abgesehen von einer kleinen Korrektur, alles genauso wie vorher. Das Motiv zu diesem Spiel legt er seinem Hauptakteur in den Mund:
"Sie verstehen: ob eine bessere oder schlechtere Biografie, darum geht es nicht. Ich weigere mich nur, daß wir allem, was einmal geschehen ist – weil es geschehen ist, weil es Geschichte geworden ist und somit unwiderruflich – einen Sinn unterstellen, der ihm nicht zukommt." (Max Frisch. Biografie: Ein Spiel. Frankfurt a.M. 1974 S.52)
Wer gern chattet, aber mal eine Pause braucht, findet in Gantenbein, der Geschichten anprobiert wie Kleider, einen kompetenten Vorläufer und kritischen Vordenker des virtuellen Spiels mit den Identitäten.