Telekolleg - Deutsch


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Folge 6 Kommentar, Leitartikel und Glosse

Beim Kommentar, dem Leitartikel und der Glosse ist die Meinung des Journalisten Pflicht. Sie soll Orientierung geben, Bedeutungen von Ereignissen oder Problemen verdeutlichen und Zusammenhänge erschließen.

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Süddeutsche Zeitungen aufgehängt dem Förderband,  | Bild: picture-alliance/dpa

1. Fernsehkommentar zur Buchmesse

Gibt es eine Renaissance der Buchkultur? "Sollen, dürfen, können wir an eine neue Buchkultur glauben?", fragt Luc Jochimsen am 17.10.2000 anlässlich der Buchmesse und kommt schließlich zu dem Schluss, dass alle Anzeichen dafür sprechen. Dass es gut aussieht mit der so oft schon totgesagten Lese- und Buchkultur, ja dass nach wie vor gilt: "Geschriebene Texte verändern die Welt."

Die typischen Stilmittel des Kommentars werden verwendet: rhetorische Fragen, Ironie, persönliche Erfahrungen, wertende Substantive und Adjektive, Forderungen:

• Sollen, dürfen, können wir an eine Renaissance glauben?
• So schöne Nachrichten ...
• Die taz titelt heute, voll im Trend ...
• Wer hätte das gedacht!
• Unvergesslich sind mir Impressionen einer Mexiko-Reise ...
• Bücher-Imperien ...
• Darauf kommt es an ...

Für Claudius Seidl ist dieser Kommentar, obwohl die üblichen Stilmittel eingesetzt wurden, nicht gut gelungen. Der ehemalige stellvertretende Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung findet außerdem: „vieles sei ein bisschen zu kurz gedacht“. Heute arbeitet der Publizist und Filmkritiker als Ressortleiter bei der Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

"Meiner Ansicht nach hat ein Kommentar eher die Aufgabe, einen Gedanken als eine Meinung zu bieten. Eine Meinung kann nämlich jeder haben. Das auf gut zwei Minuten oder 40 Zeilen auszudehnen reicht nicht. Da muss mehr drinstecken. Ein Kommentar muss mir auch dann etwas geben, wenn ich die Meinung des Kommentators nicht teile."

Konkret bedeutet das für Claudius Seidl: "ein bisschen zu floskelnd" ist ihm die rhetorische Frage: Sollen, dürfen, können ...?, und zu unbestimmt das "Wir". Dieses "starke Ich" sei natürlich erlaubt, aber hier eher suggestiv denn begründet eingesetzt.

Aus der formalen Kritik ergibt sich die inhaltliche: Der Kommentar versäume es, seine eigene Voraussetzung überzeugend zu begründen. Nämlich, warum es eigentlich gut ist, dass die Leute lesen. Mit dem "großen Wir" drücke sich die Kommentatorin um diese Begründung herum und suggeriere: Hier spricht der Konsens der Bildungsbürger. "Ich kann mit dem Kommentar in dem Moment nichts anfangen, wenn ich der Ansicht bin, dass Lesen kein Wert an sich ist", so Seidl.

Die einzige Begründung, warum es gut sein soll zu lesen, laute hier: Bücher verändern die Welt. Doch auch dieses Argument ist nach Claudius Seidl zu kurz gedacht. "Denn ist Veränderung der Welt ein Wert, dem ich automatisch zustimme? Ist es nicht eher ein Wert, etwas zu erhalten, z.B. dass es Bücher gibt und Bibliotheken?"

Damit dürfte klar sein, wie sehr auch und gerade beim Kommentar die Stichhaltigkeit der Argumente zählt.

2. Leitartikel

Aus seiner langjährigen Tätigkeit bei der Süddeutschen Zeitung berichtet Claudius Seidl, wie der Leitartikel zustande kommt und was damit erreicht werden soll.

• "Die Meinungshaltigkeit der Leitartikel wird oft überschätzt. ... Der Leitartikel hat in erster Linie nicht Meinungsfunktion, sondern eine Sondierungs-, eine Hierarchisierungsfunktion. Da steht, was uns wichtig ist. Da definieren wir jenseits des Flusses der Nachrichten das Thema, das wir für das wichtigste Thema des Tages halten."

• Welches Thema der tägliche Leitartikel behandelt, und wer ihn schreiben soll, darüber hat der Chefredakteur des Blattes die letzte Entscheidung; er redigiert ihn auch am Schluss. Meistens aber entstehe der Leitartikel "aus der Dynamik der Redaktion".

• In der Regel haben die Verfasser der Leitartikel nicht länger Zeit als 1 bis 1 1/2 Stunden, um ihre Gedanken zu entwickeln.

• Die Meinungsfreiheit und -vielfalt ist "praktisch das erste Gebot der SZ." D.h. die Autoren der Leitartikel vertreten jeweils ihre eigene Meinung und nicht etwa die der Süddeutschen Zeitung.

3. Streiflicht zum Valentinstag

Wie die tägliche Glosse der Süddeutschen Zeitung, das Streiflicht, einem wahrhaft einen Streifen Licht ins trübe Alltagsdunkel zu werfen vermag, will das Telekolleg an einem Streiflicht zum Valentinstag verdeutlichen. An diesem Tag liegt das Thema nahe: Etwas über die Liebe ist angesagt. Rainer Stephan – ehemaliger Streiflichtautor der Süddeutschen – erzählt, wie er so eine Glosse verfasste:

Zu allererst: In den 73 Zeilen, die der Glosse zur Verfügung stehen, kann er das Thema nicht erschöpfend behandeln. Er recherchiert ein bisschen, und zwar in der Bibel, nicht nur bei diesem Thema "eine häufige Quelle". Dann folgt er der "Gebrauchsanweisung an sich selbst, nämlich nichts zu machen, eine halbe bis eine dreiviertel Stunde." Er überlegt sich die Struktur, was er eigentlich sagen will, wie er das belegen kann, und mit welchen Gegensätzen er das Ganze beleben werden kann und wie er welche rhetorischen Mittel einsetzt. Ein bisschen glaubt der Streiflichtautor schon, dass sein Artikel etwas bewirkt, "auch wenn wir wissen, dass Zeitungsartikel nichts bewirken. Und daraus resultiert dann manchmal der Predigt-Ton."

Es ist nicht zuletzt die Anonymität des Autors, die nach Rainer Stephan den augenöffnenden Überraschungseffekt des Streiflichts ausmacht: "Man ist beim Schreiben sehr viel freier, wenn's alles anonym ist und man weiß, die Leute freuen sich einfach über den Text. Ein überraschter Leser ist die Idealvorstellung. Eine meiner Lieblingsideen ist überhaupt, dass Kunst anonym sein sollte, denn ich stelle es mir wunderbar vor, wenn die Leute sagen müssten, das Buch ist toll statt der neue Walser ist toll."

Der fundamentale Unernst ist das Wichtigste beim Streiflicht und dies prägt auch den Charakter der Zeitung selbst. Die Themen sind ziemlich unwichtig, wie Claudius Seidl näher erläutert. Dass die Süddeutsche auf ihrer ersten Seite noch vor den Nachrichten diesen Unernst walten lasse, sei selbst schon so etwas wie eine Nachricht und vor allem eine "Liebeserklärung an die Leser". Und die Leute dankten es der Zeitung. Seidl vermutet, dass sehr viel mehr Leute das Streiflicht als den Aufmacher lesen.

Aus dieser zentralen Stellung der Glosse in der Süddeutschen erklärt sich wohl, dass das Streiflicht – im Unterschied zum Leitartikel – von allen Redakteuren abgesegnet werden muss. "Alle müssen hinter diesen Verrücktheiten stehen. Dass unter ihnen kein Name steht, dass sie anonym sind, macht sie nur noch geheimnisvoller", erklärt Claudius Seidl.


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