Telekolleg Deutsch - Folge 2 Erzählformen des zeitgenössischen Romans
Ein Roman will in erster Linie unterhalten und erzählen. Je nach Epoche gibt es sehr unterschiedliche Erzählformen und Themen. Was bewegt zeitgenössische deutschsprachige Autor/innen und wie setzen sie sich mit der Thematik auseinander?
1. Erzählen – eine Renaissance und ein Vorläufer
Mit 12 Jahren, während seiner Schulzeit, fing er bereits an zu schreiben. Der Grund: massive Probleme mit dem Lehrer. Die Rede ist von Uwe Timm, dem 1940 in Hamburg geborenen Schriftsteller. 1971 debütierte Timm mit dem Gedichtband „Widersprüche“, aber sein eigentliches Metier wurde bald das Erzählen: Literatur, die aufklärt und geistreich, mit Humor unterhält. Mit dem Roman „Heißer Sommer“ begann 1974 seine Karriere als vielfach preisgekrönter Erzähler, so erhielt er unter anderem 2009 den Heinrich Böll Preis der Stadt Köln. „Uwe Timm sucht die Gravuren der Zeitgeschichte im gelebten Leben. Er findet sie in der Sprache, die das Erzählen zum identitätsstiftenden Instrument macht“ , so heißt es in der Begründung der Jury. Beispielhaft gelang ihm das in seiner Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993), eine Art Chronik der Bundesrepublik: leicht, spielerisch, gewitzt. Vielen ist Uwe Timm durch das Rennschwein Rudi Rüssel bekannt, eines der vier Kinderbücher, die er für jedes seiner vier Kinder geschrieben hat.
Uwe Timm gehört der 68er Generation deutschsprachiger Schriftsteller (vertreten auch durch Sten Nadolny, F.C. Delius, Hanns-Josef Ortheil, Elke Heidenreich ) an, die längst nicht so viel Aufsehen erregte und Publikumserfolge verbuchen konnte wie die ältere Generation, zu der Günter Grass, Siegfried Lenz, Uwe Johnson und Martin Walser zählen. Inzwischen gilt Uwe Timm, der sich nie den postmodernen Spielereien hingegeben hat, als Vorläufer des zeitgenössischen Erzählstils. Des Stils der neuen erzählfreudigen Schriftstellergeneration, die sich seit Mitte der 90er Jahren gebildet hat. Ein Opus von Timm hat den bezeichnenden Titel „Erzählen und kein Ende“.
"Mitte der 90er Jahre ist das Erzählen wieder aufgekommen. Viele Autoren knüpften wieder an die angelsächsische Erzähltradition an. Sie wollen ein breites Publikum erreichen, populär erzählen und arbeiten sehr handlungsorientiert", erklärt der Publizist apl. Prof. Dr. Sven Hanuschek. "Die angelsächsischen Vorbilder kann man an den einzelnen Texten festmachen: Thomas Brussig z.B. hat sich in seinem grotesken Wenderoman „Helden wie wir“ bei Philip Roths „Portnoys Beschwerden“ bedient, Christian Kracht in seinem Roman „Faserland“ bei Bret Easton Ellis."
Drei neue Themengruppen haben sich bei dieser Renaissance des Erzählens herauskristallisiert, Hanuschek nennt je zwei Vertreter:
• Die Wiedervereinigung, insgesamt die deutsch-deutsche Thematik bis hin zu einer neuen Sicht auf das "Dritte Reich". Hierfür stehen z.B. Jurek Beckers „Amanda herzlos“ und Marcel Beyers „Flughunde“, eine Erzählung über einen Akustiker im "Dritten Reich".
• Historische Themen: Seit den 90er Jahren erfährt der historische Roman eine Erneuerung. Helmuth Kraussers „Melodien“ und Raoul Schrotts „Finis Terrae“ sind hier zu nennen.
• Der Roman mit starkem autobiografischem Gestus, der auf Authentizität setzt, wie Zoe Jennys „Blütenstaubzimmer“ und Christian Krachts „Faserland“.
2. Wende – Deutsch-deutsche Thematik
Christa Wolf (1929-2011) rückte Anfang der 90er Jahre ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Stasi hat sie zwischen 1959 und 1962 als "Informelle Mitarbeiterin" (IM) geführt. Das Kürzel "IM" wurde in den erregten westdeutschen Feuilletons zum "moralischen Todesurteil" für die prominente DDR-Schriftstellerin. Vergessen schien dabei, dass der 1968 erschienene Roman "Der geteilte Himmel" vielleicht das wichtigste Buch der oppositionellen DDR-Literatur überhaupt wurde. Seit diesem Opus ist Christa Wolf selbst von der Stasi überwacht worden. Die Schriftstellerin wurde daraufhin in Ost und West unterschiedlich bewertet. Während sie für Ostdeutsche als Integrationsfigur galt, warf man ihr im Westen vor, dass sie allzu korrekt und engagiert in allem war: Erst besonders engagierte Sozialistin und Stasi-Mitarbeiterin, dann extrem moralisch agierende Lehrmeisterin des Authentischen und des Sozialismus als Utopie.
Die Verschiedenheit kam auch in der Rezeption der Medea – erschienen 1996 – zum Tragen. In diesem Roman stellt Wolf den antiken Mythos der kaltblütigen Kindsmörderin auf den Kopf: Das rasende, bösartige Weib erscheint als pure männliche Projektion, die wirkliche Medea ist eine weise selbstsichere Frau, an der die patriarchale Umgebung schuldig wird: "Sie haben aus jedem von uns den gemacht, den sie brauchen." Viele westliche Kritiker sahen in dieser Geschichte eine pure Ost-West-Parabel: Christa Wolf war die Medea, das Opfer ihrer Umgebung – nämlich der DDR, die in Kolchis verschlüsselt erschien. In der Tat habe, so apl. Prof. Dr. Sven Hanuschek, dieser Roman als Parabel viele Dimensionen, die historisch-feministische mit ihrer Kritik am Patriarchat oder die zeitpolitische, die Kritik an politischen Systemen.
Thomas Brussig (geboren 1964), hat 1995 mit „Helden wie wir“ betont ganz selbstbewußt "den ultimativen Wenderoman" geliefert. Scharfzüngig grotesk wird hier der körperfeindliche DDR-Spießbürger aufs Korn genommen und ohne alle Wehmut mit dem autoritären System abgerechnet. In dem von Witz und Absurditäten sprudelnden Roman fällt indes eins aus dem Rahmen: Christa Wolf wird nicht nur verspottet – aus "Der geteilte Himmel" wird bei Brussig der "geheilte Pimmel" – sondern er rechnet hier politisch mit ihr ab: in erstaunlich ernstem, scharfen Ton. Mit ihrer berühmten, 1989 auf dem Alexanderplatz gehaltenen Rede , erscheint sie Brussig als die "Übermutter", die ihm die gerade gewonnene Freiheit wieder nehmen will. Der Roman „Helden wie wir“ wurde 1999 unter der Regie von Sebastian Peterson verfilmt. Vorher entwickelte Thomas Brussig zusammen mit dem Regisseur Leander Haußmann das Drehbuch zu dem Film "Sonnenallee" und erst danach schrieb er den Wenderoman „Sonnenallee“, weil ihm einige Aspekte im Film zu kurz gekommen waren.
3. Nationalsozialistische Geschichte neu erzählt
Bernhard Schlink (geboren 1944, Jurist und Schriftsteller) gelang, was bislang noch keinem Deutschen gelungen ist, der über den Holocaust geschrieben hat: Er landete mit seinem Roman „Der Vorleser“ (1995) auf der Bestsellerliste der New York Times und in den renommiertesten Talkshows der Vereinigten Staaten. In dem zwischenzeitlich verfilmten Roman erzählt Schlink die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe zwischen einem pubertierenden deutschen Schuljungen und einer ehemaligen KZ-Aufseherin: Was als Romanze zwischen dem Jungen und der üppigen Älteren, der er bei allen heimlichen Treffen vorliest, beginnt, endet mit Entsetzen im Gerichtssaal: Der inzwischen zum Jurastudent herangewachsene Ich-Erzähler sieht seine damals plötzlich spurlos verschwundene Geliebte auf der Anklagebank wieder – bei einem Prozess gegen Naziverbrecher. Den ungeheuren Erfolg dieses etwa 2,5 Millionen Mal verkauften Buches erklärt apl. Prof. Dr. Sven Hanuschek:
"Es hat tatsächlich einen Wechsel in der Art der Erzählung eingesetzt. Man konnte unmittelbar nach 1945 nur dokumentarisch abgesichert erzählen, weil es noch Zeitzeugen gab. Dadurch haben sich bestimmte Darstellungsweisen verboten. Inzwischen sind viele Zeitzeugen gestorben und der Holocaust ist ins kollektive Gedächtnis hinübergewechselt. Daher kann man jetzt z.B. Comics über den Holocaust lesen und Hollywoodfilme darüber drehen, ohne dass einer verletzt wird. Einerseits ist das ein gutes Zeichen, andererseits kann das natürlich auch schief gehen."
Quellen:
- Kindlers Literaturlexikon (umfangreiches Literaturlexikon zur Weltliteratur in mehreren Bänden, z.B. bei J. B. Metzler Verlag mit Online Datenbank)
- Otto F. Best. Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Frankfurt a.M. 2000 (5. Aufl.).