Telekolleg - Deutsch


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Telekolleg Deutsch - Folge 8 Einführung in die Lyrikanalyse

Liebe ist das Top- Thema in der Lyrik. Über die Epochen hinweg befassen sich Dichter mit Keuschheit und Sünde, Herz und Schmerz, Lust und Frust.

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Harfe aus dem 19. Jahrhundert | Bild: picture-alliance/dpa

1. Minnesang:

Den Anfang macht die Liebeslyrik mit der "Kunst der glücklosen Anbetung" – dem Minnesang. Nicolai de Treskow (geb. 1965) ehemaliger deutscher Musiker und Deutschlands prominentester Minnesänger, sang gerne zur Harfe, begleitet von Schwester Katharina, das Lied von der "Bärbelin". Der Ritter wirbt in diesem mittelalterlichen Lied um das "schöne Bärbelin".

Oswald von Wolkenstein:

Bärbelin (14. Jhd.)

Treib her, treib überher, du trautes Bärbelin das mein
zu mir ruck mit den schäfflin dein,
kum schier, mein schönes Bärbelin!

Des wol, des wol mich ward vil mer dann huntert taustent slunt.
mich tröst dien rosenvarber munt,
der löst auff swäres herzens punt.

Falls Sie das nicht verstehen, hier die Übersetzung:

Treib her, treib herüber, du mein liebes Bärbelein,
zieh mit deinen Schäflein her zu mir,
komm bald, mein schönes Bärbelein!

Drum wohl mir, wohl geschah mir mehr als hunderttausendfach.
Dein rosiger Mund tröstet mich
und löst von Fesseln das bedrückte Herz.

Wer annimmt, dass es dem Minnesang einzig um die Erhöhung des weiblichen Geschlechts ging, irrt. Nicolai de Treskow erläutert die Bedeutung des Minnesangs: "Der Gesang gehörte zum Kulturprogramm von Kaiser Friedrich Barbarossa. Er wollte damit die Kaste der Ritter kulturpolitisch ins Reich einbinden. Es ging nicht darum, die Damen zu erhöhen, sondern die Damen waren eher Staffage in einem Spiel von Männern für Männer."

2. Aufklärung und Empfindsamkeit: anakreontische Lyrik

Von etwa 1740 an erfreute sich eine lebensfrohe und gesellige Art von Liebesdichtung großer Beliebtheit: die anakreontische Lyrik. Was Anakreontik bedeutet, und woher das Wort stammt, erläutert Dr. Ulrike Landfester, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen:

"Die Anakreontik ist eine Lyrikbewegung, die zurück geht auf einen griechischen Dichter des 6. Jahrhunderts vor Christus namens Anakreon. Ihm wurden lange – was sich inzwischen als Irrtum erwiesen hat – 60 Lieder zugeschrieben, in denen es stets um Wein, Weib und Gesang ging. In Deutschland verdankte die Anakreontik ihre Entstehung dem Hallenser Philosophen Baumgarten, der in seiner Ästhetik die Poetik emanzipierte und als eigenständige Disziplin neben der Rhetorik etablierte. Die Dichtung durfte von nun an eigenwertig sein, sie durfte schön sein, etwas sinnlich erfahrbares. Und so haben die Anakreontiker in Halle angefangen, Lyrik zu produzieren, die einfach nur schön ist."

Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) Dichter der Aufklärungszeit:

Zephir (1745)

Rosen blühn auf schwarzen Stöcken,
Seht, wie sich die Farben mischen!
Lilien stehn, wie weiße Kronen,
Stolz auf grünen Heroldsstäben.
Nelken stehn wie bunte Kränze,
Auf gefärbten Schwandenhälsen.
Aber seht, sie stehn so stille!
Läßt sie Zephir so zufrieden?
Zephir, bist du denn so müßig,
Oder bist du weggeschwärmet?
Kannst du diese Flur verlassen?
Wohnst du nicht in diesem Garten?
Schwärmst du nicht in diesen Büschen,
Die mein Prinz für sie gepflanzet?
Komm, es warten tausend Nelken,
Komm, und schüttle sie zusammen,
Daß es läßt, als wenn sie küßten!
Schwärme doch um tausend Rosen!
Laß mich sehn, ob sie am liebsten Rosen oder Nelken küssen!
Zephir kannst du nicht mehr schwärmen?
Oder bist du weggeschwärmet?
Sucht ihn doch, den Müßiggänger!
Kommt, dort wollen wir ihn suchen,
Dort bewegen sich die Lilien.
Seid nur still, ich hör ihn lachen,
Hört nur zu, er lacht recht laute!
Seht, dort schwärmt er um das Mädchen!
Seht, jetzt schwärmt er um den Busen!
Seht, jetzt weicht die leichte Seide!
Seht, jetzt zeigt er uns den Busen.
Kommt, wir wollen näher laufen,
Denn er soll uns noch was zeigen!

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Dichter und Naturwissenschaftler

Mit einem gemalten Band (1770/1)

Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen mir mit leichter Hand
Gute junge Frühlingsgötter
Tändelnd auf ein luftig Band.
Zephir, nimms auf deine Flügel,
Schlings um meiner Liebsten Kleid!
Und so tritt sie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit.

Sieht mit Rosen sich umgeben,
Selbst wie eine Rose jung.
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genug.

Fühle, was dies Herz empfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet,
Sei kein schwaches Rosenband!

"Zephir ist der Westwind, der griechischen Mythologie zufolge der Gott des Westwinds, der ständig in irgendwelche Liebesgeschichten verwickelt war", wie Prof. Dr. Ulrike Landfester erklärt. Das Anakreontische an diesen beiden, sich um Zephir drehenden Gedichten erkennt man nach der Literaturwissenschaftlerin an drei Merkmalen:

  • an der Wiederkehr der floralen Metaphorik, insbesondere der Rose. "Die Rose ist das Schlüsselwort der Anakreontik. Sie steht für das weibliche Geschlecht, das begehrte Andere, sie steht durchaus auch ganz drastisch für die Vagina in ihrer Affinität der roten Farbe und Form."
  • an den antikisierenden Elementen wie Zephir oder anderen mythologischen Gestalten daran, dass sich diese Gedichte alle an einem fiktiven Ort abspielen, im schäferlichen Arkadien, wo sich Liebespaare zusammenfinden können
  • "an dem Spielcharakter der Gedichte", der nach Prof. Ulrike Landfester ganz entscheidend ist. "Die anakreontische Lyrik versucht in gesellschaftlich vermittelbarer, d.h. ziemlich braver Form, über Liebe zu reden. Sie versucht nicht die Liebe ihrem körperlichen Vollzug zuzutreiben." Dieses Spielerische der poetischen Rede hat Goethes Geliebte, die Straßburger Pfarrerstochter Friederike Brion, die in dem obigen Gedicht angesprochen ist, nicht verstanden. Und das ist auch nicht verwunderlich, denn die Zeit der Anakreontik war vorbei. Sie hat die Worte Goethes als Heiratsangebot missverstanden und ihm seinen Rückzug dann sehr übel genommen. Auch die Nachwelt des Dichters empörte sich wegen dieser Affäre.

3. Romantische Liebeslyrik: Brentano und Eichendorff

Clemens Brentano (1778-1842), Schriftsteller und der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik (1800/1)

Auf Dornen oder Rosen hingesunken? –
– Ob leiser Atem von den Lippen fließt –
– Ob ihr der Krampf den kleinen Mund verschließt –
– Kein Öl der Lampe? – oder keinen Funken? –

Der Jüngling – betend – tot – im Schlafe trunken?
– Ob er der Jungfrau höchste Gunst genießt
– Was ist's? das der gefallne Becher gießt –
– Hat Gift, hat Wein, hat Balsam sie getrunken –

Und sieh! des Knaben Arme Flügel werden –
– Nein Mantelsfalten, – Leichentuches Falten
Um sie strahlt Heilgenschein – zerraufte Haare –

O deute die undeutlichen Geberden,
O laß des Zweifels schmerzliche Gewalten
– Enthüll, verhüll das Freudenbett – die Bahre.

In diesem Gedicht kommt die romantische Poetologie zum Vorschein: "Es besteht aus lauter fragmentarischen Sätzen, bei denen der Leser mitentscheiden soll: Ist das jetzt Tod oder ist es Liebes-Ekstase? Der Leser ist hier aufgefordert, geistig an dem Gedicht mitzuarbeiten und sich selbst in diesem Prozess zu bilden", erläutert Prof. Dr. Ulrike Landfester.

Joseph von Eichendorff (1788-1857), ein bedeutender Lyriker und Schriftsteller der deutschen Romantik. Er drosselt in seinen Gedichten spürbar die seit dem Sturm und Drang und noch bei Brentano vorherrschende Pathologisierung und Dämonisierung des Eros – der Liebe als Trieb, dem man rettungslos ausgesetzt und ausgeliefert ist.

Hier ein Beispiel seiner Liebeslyrik:
Joseph von Eichendorff:

Ständchen (1815)

Schlafe, Liebchen, weil's auf Erden
Nun so still und seltsam wird!
Oben gehn die goldnen Herden,
Für uns alle wacht der Hirt.

In der Ferne ziehn Gewitter;
Einsam auf dem Schifflein schwank,
Greif' ich draußen in die Zitter,
Weil mir gar so schwül und bang.

Schlingend sich an Bäum' und Zweigen
In Dein stilles Kämmerlein,
Wie auf goldnen Leitern, steigen
Diese Töne aus und ein.

Und ein wunderschöner Knabe
Schifft hoch über Tal und Kluft,
Rührt mit seinem goldnen Stabe
Säuselnd in der lauen Luft.

Und in wunderbaren Weisen
Singt er ein uraltes Lied,
Das in linden Zauberkreisen
Hinter seinem Schifflein zieht.

Ach, den süßen Klang verführet
Weit der buhlerische Wind,
Und durch Schloß und Wand ihn spüret
Träumend jedes schöne Kind.

4. Fin de Siècle: Sinnenrausch

Stefan George (1868-1933), Lyriker, Vertreter des „Symbolismus“

Du schlank und rein wie eine Flamme (1928)

Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht

Begleitest mich auf sonnigen matten
Umschauerst mich im abendrauch
Erleuchtest meinen weg im schatten
Du kühler wind du heisser hauch

Du bist mein wunsch und mein gedanke
Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft

Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht.

Else Lasker-Schüler (1869-1945), eine bedeutende deutsch-jüdische Dichterin. Sie war auch bekannt als Vertreterin der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus in der Literatur. Außerdem trat sie auch als Zeichnerin hervor:

Sinnenrausch (1902)

Dein sünd'ger Mund ist meine Totengruft,
Betäubend ist sein süsser Atemduft,
Denn meine Tugenden entschliefen.
Ich trinke sinnberauscht aus seiner Quelle
Und sinke willenlos in ihre Tiefen,
Verklärten Blickes in die Hölle.

Mein heisser Leib erglüht in seinem Hauch,
Er zittert, wie ein junger Rosenstrauch,
Geküsst vom warmen Maienregen.
– Ich folge Dir ins wilde Land der Sünde
Und pflücke Feuerlilien auf den Wegen,
– Wenn ich die Heimat auch nicht wiederfinde ...

Rainer Maria Rilke: (1875-1926) einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache. Er verfasste auch Erzählungen, einen Roman und Aufsätze zu Kunst und Kultur.

Liebeslied (1907)

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

"Sinnenrausch", der Titel des Gedichts von Else Lasker-Schüler ist charakteristisch für die Richtung, aus der jetzt der lyrische Wind weht. "Was diese Gedichte gemeinsam haben, ist, sie denken sehr intensiv auf den körperlichen Vollzug, aber der andere fehlt, wird nur konstruiert. Wir haben es hier mit einer extremen Ästhetisierung der Liebe zu tun, mit l'art pour l'art. Es geht hier nicht um die Liebe selbst, sondern darum, wie man über sie redet", meint Prof. Dr. Ulrike Landfester.

Als "dekadent" wird diese Poesie des Fin de Siècle, des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert gern bezeichnet, besonders im Schussfeld wegen seiner antibürgerlichen Haltung stand Stefan George (1868 – 1933). Die Geliebten, die er in seinen Gedichten anspricht, sind stets Männer, sie sind "phallisch konstruiert" (Dr. Ulricke Landfester). Auffallend ist auch die strenge Form seiner homoerotischen Gedichte: Die Strophen sind allesamt klare Vierzeiler, der Reim ist sehr streng gebunden (durchgängig: abab), das Ganze ist eine "Hypertrophierung der Volksliedform", so Prof. Dr. Ulrike Landfester.

Anders Rilke: Er führt die Leser mit der Bezeichnung Lied an der Nase herum: Er sprengt mit seinem musikalischen Gedicht die traditionelle Liedform, für die der vierzeilige Strophenbau, ohne Enjambements typisch ist.

5. Liebeslyrik zwischen zwei Weltkriegen

Bertolt Brecht:

Erinnerung an Marie A. (1920)

1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.

3
Und auch den Kuss, ich hätt' ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär.
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

Gottfried Benn (1886-1956), Arzt, Dichter und Essayist

Liebe (1927/28)

Liebe – halten die Sterne
über den Küssen wacht –:
Meere, Eros der Ferne,
rauschen, es rauscht die Nacht,
steigt um Lager, um Lehne,
eh sich das Wort verlor
Anadyomene
ewig aus Muscheln vor.

Liebe – schluchzende Stunden,
Dränge der Ewigkeit
löschen ohne viel Wunden
ein paar Monde der Zeit,
Landen – schwärmender Glaube,
Arche und Ararat
sind dem Wasser zu Raube,
das keine Grenzen hat.

Liebe – du gibst die Worte
weiter, die dir gesagt,
Reigen – wie sind die Orte
von Verwehtem durchjagt,
Tausch – und die Stunden wandern,
die Flammen wenden sich,
ich sterbe für einen andern
und du für mich.

Joachim Ringelnatz (1883-1934), Schriftsteller, Kabarettist und Maler.

Ein Liebesbrief (1930)

Ein Liebesbrief
Von allen Seiten drängt ein drohend Grau
Uns zu. Die Luft will uns vergehen.
Ich aber kann des Himmels Blau,
Kann alles Trübe sonnvergoldet sehen.
Weil ich dich liebe, dich, du frohe Frau!

Mag sein, dass alles böse sich
Vereinigt hat, uns breitzutreten.
Drei Rettungswege gibt`s: Zu beten,
Zu Sterben, und "Ich liebe dich!"

Und alle drei in gleicher Weise
Gewähren Ruhe, geben Mut
Es ist wie holdes Sterben, wenn wir leise
Beten: "Ich liebe dich, Sei gut!"

"Es ist nicht mehr die sinnlich berauschte Liebe des Fin de Siècle, die hier besungen wird, sondern die Liebe in einer Welt, in der man die Erfahrung macht, dass alles jederzeit zusammenbrechen kann, dass alles sehr vergänglich ist", so Prof. Dr. Ulricke Landfester.

Bei aller Ähnlichkeit in Grundstimmung und Thema sind indes gravierende Unterschiede in der Sprache festzustellen, vor allem zwischen Benn und Brecht. Brecht war ein ganz anti-elitärer Kunstdidakt, er wählte betont einfache Ausdrücke und den schlichten Bau. Ganz anders Benn: Der lässt seine Bildung in fast jeder Zeile durchblicken und präsentiert in seinem Gedicht die Poesie von zwei Jahrtausenden.


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