Telekolleg Deutsch - Folge 05 Drama: Die Klassik
Die Jahre zwischen 1786 und 1805, also von Goethes erster Italienreise bis zu Schillers Tod, bezeichnet man als "Klassik" oder "Weimarer Klassik". Humanität, Streben nach Vollendung, harmonische Übereinstimmung von Verstand und Gemüt prägen diese Epoche.
1. Nathan der Weise – Bedeutendster Vorläufer der Weimarer Klassik
"Nathan der Weise", das letzte Theaterstück des großen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, leitet 1779 den Wendepunkt zur Weimarer Klassik ein. Mit ihm setzt sich der Blankvers durch, der nun von Don Carlos und Iphigenie bis zum Wallenstein das Versmaß des Deutschen Dramas wird.
Im Zentrum dieses "dramatischen Gedichts" (3. Aufzug, 7. Auftritt), steht die berühmte Ringparabel: Nathan antwortet damit auf die heikle Frage des Sultans, welches die wahre Religion sei: die christliche, die islamische oder jüdische. Einzig am guten, vernünftigen Handeln und Umgehen miteinander zeigt sich nach diesem Lehrstück echte Religiosität.
Nathan predigt nicht etwa nur aufgeklärte Humanität und Toleranz, sondern mischt sich mit seinen vernünftigen Prinzipien gründlich in seine Welt ein. Obwohl er selbst durch Christen seine gesamte Familie verloren hat, nahm er die kleine Christin Racha als Adoptivtochter an und zog sie liebevoll auf. Auf dieser guten Tat, die zeitlich vor Beginn des Dramas liegt und in ihm sukzessive aufgerollt wird (= Prinzip des "analytischen Dramas"), basiert die große, fast utopisch angelegte Versöhnung der Juden, Moslems und Christen am Ende.
Die Entstehungsgeschichte des Nathan mutet bereits modern an, sie war ein veritabler Skandal: Lessing hatte als Bibliothekar anonym die religionskritischen Schriften des Hermann Samuel Reimarus, Wegbereiter der Bibelkritik , veröffentlicht und kühn im Geiste der Aufklärung kommentiert. "Er plädierte für die individuelle, freie Religionsausübung und gegen die dogmatische buchstabengetreue Auslegung der Offenbarung. Der aufgeklärte Bürger hat nach Lessing ein Recht darauf, sich eine freie Meinung in theologischen Fragen zu bilden", erklärt Prof. Dr. Andrea Bartl. Mit diesem Plädoyer schuf Lessing ein Politikum, das den dogmatischen Hamburger Pastor Melchior Goeze auf den Plan rief: Der brachte schließlich den Herzog von Braunschweig dazu, Lessing ein Publikationsverbot zu erteilen. Lessing, der mundtot gemachte Aufklärer, wechselte daraufhin den Kampfplatz und schrieb den Nathan:
"Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens noch ungestört wird predigen lassen." (Lessing zitiert nach Kindlers Literaturlexikon)
Die Ethik des klassischen Dramas baut auf diesem aufgeklärten Stück auf: "Der Toleranzgedanke, der kritische Umgang mit der Wahrheit, der man sich nur annähern kann, der Appell an die Vernunft, all das sind typische Elemente dann später der Klassik", erläutert Prof. Dr. Andrea Bartl.
Die Ideale und Ziele der Weimarer Klassik erschöpfen sich darin natürlich noch nicht: "Zu ihnen gehören die berühmte Vereinigung von Neigung und Pflicht, die dann Goethe und Schiller propagiert haben, die Vernunft als Gleichmaß, Schönheit und Ordnung, wie sich das in den klassischen Dramen wiederspiegelt und die Affektkontrolle. Alles in allem, die "Veredelung", ein Wort das heute zweifellos gewöhnungsbedürftig ist", so Bartl Lessings Miss Sara Sampson (1755) und seine dramaturgischen Schriften machten auch die Bühne frei für die 'normalen' Bürger. Bislang war die bunte Welt auf Brettern nur den Adligen und anderen hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten.
2. Kabale und Liebe -Der Aufstieg der bürgerlichen Dramenhelden
Durch die Bezeichnung "Ein bürgerliches Trauerspiel" stellte Schiller sein 1784 uraufgeführtes Drama ausdrücklich in die lessingsche Tradition. Es geht in diesem Drama, wie das Wort Kabale (= Intrige, hinterhältiger Anschlag) schon verrät, um eine durch fiese Interventionen vereitelte große Liebe. Und zwar zwischen Luise Millerin, einer Bürgerlichen, und dem adligen Major Ferdinand von Walter. Diese frühe Tragödie Schillers wird – wie seine Räuber – gewöhnlich dem Sturm und Drang zugerechnet. In Ferdinand rebelliert das Individuum mit seiner 'unbedingten Liebe' gegen die Autoritäten und Konventionen des Establishments. Luises verzweifelter Selbstmord zeigt, dass wahre Menschlichkeit und Liebe in dieser von korrupten Autoritäten diktierten Welt nicht möglich sind.
Schiller liefert mit diesem pathetischen Drama aber nicht nur eine scharfe Satire auf die intrigante höfische Gesellschaft des Absolutismus. In Luises Milieu, insbesondere in der Figur ihres Vaters, des spießigen Patriarchen, der von seiner Tochter absoluten Gehorsam fordert, beleuchtet er auch kritisch die beschränkte Denkungsart des Kleinbürgertums.
"Kabale und Liebe gehört wie Die Räuber, Emilia Galotti, Miss Sara Sampson und Kleists Komödie Der Zerbrochene Krug zu den Klassikern des deutschen Theaters", erklärt Prof. Marion Tiedtke. "Klassiker" hier im weiten Sinn von mustergültig, traditionsbildend, meistgespielt, nicht im engen Sinn von "Weimarer Klassik".
"Das Konzept der Weimarer Klassik ist im Wesentlichen im Dialog zwischen Goethe und Schiller entstanden", erläutert Prof. Dr. Andrea Bartl. "Dabei gab es durchaus Meinungsverschiedenheiten zwischen den großen Dichtern: Schiller hatte z.B. im Unterschied zu Goethe eine konkrete Vorstellung vom Theater als "Tribunal", wie es in seiner Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ heißt. Die Bühne hat bei ihm die Funktion, für die Moral, für die Gerechtigkeit und den Einklang der Gemüter zu sorgen, die die weltliche Justiz nicht einklagen kann"
3. Torquato Tasso – Die Frage der Werktreue bei Klassikern
Ein Dichter steht in diesem 1790 erschienenen Drama im Mittelpunkt: An einem historischen Vorläufer, dem italienischen Renaissancedichter Torquato Tasso (1544-95), thematisiert Johann Wolfgang von Goethe hier seinen eigenen Konflikt zwischen Kunst und Leben, zwischen dichterischer und politischer, weltmännischer Existenz. In dem Schauplatz des Dramas, der Hof von Ferrara, idealisiert er die kunst- und kulturinteressierte Weimarer Gesellschaft seiner Zeit. Dieses Drama ist ein Tümmelfeld für die verschiedensten Interpretationen. Denn es rollt die letztlich alle Dichter, Theatermacher und Schauspieler umtreibende Frage auf, welche Rolle der Dichter, ja, die Kunst insgesamt, im Leben und für die politische Gemeinschaft spielen kann und soll.
In Peter Steins Bremer Inszenierung von 1969 erscheint Tasso fast als ein Hampelmann, der alles mit sich machen lässt. Stein leitete mit dieser Inszenierung (mit Bruno Ganz, Jutta Lampe und Edith Clever in den Hauptrollen) eine Wende in der verstaubten Rezeption der Klassiker ein: Er blieb zwar dem Wortlaut und der Szenerie des Textes treu, wagte aber "eine Parodie des hohen Goetheschen Pathos und zeigte den Tasso als Gesellschaftskomödie" (Schauspiellexikon S.449).
Claus Peymann lässt Tasso in seiner berühmten Bochumer Inszenierung von 1980 als ein isoliertes, passives Opfer der Gesellschaft erscheinen: Tasso sitzt buchstäblich im Glashaus. Während Peymann Räume und Kostüme verändert und sinnfällig auf seine aktualisierende Interpretation zuschneidet, behält er den Wortlaut des Textes bei und unterstreicht das Pathos der Figuren: Emotional höchst engagiert lässt er die beiden Frauen über den Dichter debattieren.
Frank Castorf sorgte mit seiner Inszenierung am Münchner Residenztheater 1991 für einen kleinen Skandal: Er strich ganze Partien aus Goethes Text und verließ sich immer wieder auf eigene Assoziationen. In dem Dialog der Frauen sieht es so aus, als sei Tasso bloß ein lästiger Störenfried. Als "Klassikerzertrümmerung" wurde seine Inszenierung beschimpft. Doch es ist ein Irrtum, zu meinen, dass es die ein für alle Mal "richtige" Interpretation und Inszenierung solcher Klassiker gibt. "Werktreue ist ein schwieriger Begriff", erklärt Prof. Marion Tiedtke. "Denn die Frage ist, was Werktreue überhaupt bedeuten soll. Wir haben Stücke als Vorlage und das ist eine ganz andere Ausgangsposition als etwa in einem Museum, wo ich ein Bild von Picasso vor mir habe, das fertig ist. Unsere Stücke sind Textpartituren. Sie wollen neu gelesen, sie wollen angeeignet werden. Und diese Aneignung findet beim Theater auf drei Ebenen statt:
der Ebene der Ausstattung: Bühnenbild, Beleuchtung, Kostüme, Requisiten
der Ebene des Textes: Verständnis des Stückes, seiner Charaktere und Problematik
der Ebene der Schauspielkunst: der Sprachhandlung und der Gesten. All diese Ebenen haben sich im Verhältnis zur Goethezeit verändert, d.h. ohne eine ausdrückliche Aneignung funktioniert gar keine Inszenierung."
Werktreue ist hiernach keine Frage der genauen textgetreuen Wort-für-Wort-Wiedergabe. Die Werktreue einer Inszenierung erweist sich allein dadurch, dass sie zeigt, dass das Stück heute noch eine Bedeutung hat. Insofern wird Castorfs Inszenierung dem Werk genauso gerecht wie die von Peymann oder Stein. Man kann nicht sagen, welche die "richtige" ist: Gerade in der Vielfalt ihrer Interpretationsmöglichkeiten zeigt sich die Relevanz und Unerschöpflichkeit der Klassiker.
Quellen:
- Kindlers Literaturlexikon (umfangreiches Literaturlexikon zur Weltliteratur in mehreren Bänden, z.B. bei J. B. Metzler Verlag mit Online Datenbank)
- Bertelsmann Schauspielführer. Hrsg. v. Klaus Völker. Gütersloh/München 1992.