Telekolleg Deutsch - Folge 10 Literarische Textanalyse am Beispiel Epik
Lesen, Verstehen, Interpretieren – darauf kommt es an bei der literarischen Textanalyse. Doch wie macht man das? Verstehen heißt, sich über Bedeutungen und Zusammenhänge im Text klar zu werden. Und Interpretieren bedeutet, vom Text aus auf übergeordnete Zusammenhänge zu schließen.
1. Das Leben des Schriftstellers
Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka in Prag als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns geboren. In der prächtigen böhmischen Metropole, die auch Schauplatz seiner meisten literarischen Werke wurde, studierte er von 1901-1906 Germanistik und Jura, promovierte 1906 in Jura und machte ein Praktikum am Landesgericht Prag. Daher also die Vertrautheit mit dem Gesetz und der Justiz, die den Stoff zahlreicher seiner Texte bildet. Zwischen 1908 und 1917, als er an Tuberkulose erkrankte, arbeitete der große Schriftsteller als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. Daneben schrieb und veröffentlichte er die ersten großen Erzählungen: den Sammelband Die Betrachtung (1913) sowie Die Verwandlung (1916) und Das Urteil (1916).
Das Schreiben war dem passionierten Dichter indes ein Kampf, eine stets am Rande der Verzweiflung und der Selbstzweifel sich haltende Tätigkeit, der er sein ganzes Leben widmete. Am 6. Dezember 1921 notierte er in seinem Tagebuch: "Die Metaphern sind eines in dem Vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt. Die Unselbständigkeit des Schreibens, die Abhängigkeit von dem Dienstmädchen das einheizt, von der Katze, die sich am Ofen wärmt, selbst vom armen alten Menschen, der sich wärmt. Alles dies sind selbständige, eigengesetzliche Verrichtungen, nur das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß und Verzweiflung." Mit vierzig Jahren starb der große Dichter am 3. Juni 1924 an den Folgen seiner Tuberkulose in Kierling bei Wien. Seine Romane Das Schloss und Der Prozess wurden zur Signatur des 20. Jahrhunderts.
2. Der Schlag ans Hoftor:
Exemplarische Textanalyse Übungsaufgabe: Untersuchen Sie die Erzählperspektive in Franz Kafkas "Der Schlag ans Hoftor".
Franz Kafka: Der Schlag ans Hoftor
Es war im Sommer, ein heißer Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor vorüber. Ich weiß nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar nicht. Hundert Schritte weiter an der nach links sich wendenden Landstraße begann das Dorf. Wir kannten es nicht, aber gleich nach dem ersten Haus kamen Leute hervor und winkten uns, freundschaftlich oder warnend, selbst erschrocken, gebückt vor Schrecken. Sie zeigten nach dem Hof, an dem wir vorübergekommen waren, und erinnerten uns an den Schlag ans Tor. Die Hofbesitzer werden uns verklagen, gleich werde die Untersuchung beginnen. Ich war sehr ruhig und beruhigte auch meine Schwester. Sie hatte den Schlag wahrscheinlich gar nicht getan, und hätte sie ihn getan, so wird deswegen nirgends auf der Welt ein Beweis geführt. Ich suchte das auch den Leuten um uns begreiflich zu machen, sie hörten mich an, enthielten sich aber eines Urteils. Später sagten sie, nicht nur meine Schwester, auch ich als Bruder werde angeklagt werden. Ich nickte lächelnd. Alle blickten wir zum Hofe zurück, wie man eine ferne Rauchwolke beobachtet und auf die Flamme wartet. Und wirklich, bald sahen wir Reiter ins weit offene Hoftor einreiten. Staub erhob sich, verhüllte alles, nur die Spitzen der hohen Lanzen blinkten. Und kaum war die Truppe im Hof verschwunden, schien sie gleich die Pferde gewendet zu haben und war auf dem Wege zu uns. Ich drängte meine Schwester fort, ich werde alles allein ins Reine bringen. Sie weigerte sich, mich allein zu lassen. Ich sagte, sie solle sich aber wenigstens umkleiden, um in einem besseren Kleid vor die Herren zu treten. Endlich folgte sie und machte sich auf den langen Weg nach Hause. Schon waren die Reiter bei uns, noch von den Pferden herab fragten sie nach meiner Schwester. Sie ist augenblicklich nicht hier, wurde ängstlich geantwortet, werde aber später kommen. Die Antwort wurde fast gleichgültig aufgenommen; wichtig schien vor allem, daß sie mich gefunden hatten. Es waren hauptsächlich zwei Herren, der Richter, ein junger, lebhafter Mann, und sein stiller Gehilfe, der Aßmann genannt wurde. Ich wurde aufgefordert in die Bauernstube einzutreten. Langsam, den Kopf wiegend, an den Hosenträgern rückend, setzte ich mich unter den scharfen Blicken der Herren in Gang. Noch glaubte ich fast, ein Wort werde genügen, um mich, den Städter, sogar noch unter Ehren, aus diesem Bauernvolk zu befreien. Aber als ich die Schwelle der Stube überschritten hatte, sagte der Richter, der vorgesprungen war und mich schon erwartete: »Dieser Mann tut mir leid.« Es war aber über allem Zweifel, daß er damit nicht meinen gegenwärtigen Zustand meinte, sondern das, was mit mir geschehen würde. Die Stube sah einer Gefängniszelle ähnlicher als einer Bauernstube. Große Steinfliesen, dunkel, ganz kahle Wand, irgendwo eingemauert ein eiserner Ring, in der Mitte etwas, das halb Pritsche, halb Operationstisch war.
Könnte ich noch andere Luft schmecken als die des Gefängnisses? Das ist die große Frage oder vielmehr, sie wäre es, wenn ich noch Aussicht auf Entlassung hätte.
Lösung: Analyse der Erzählperspektive
Textanalyse von Reinhold Pöllmann (ehemaliger Studiendirektor langjähriger Verbindungslehrer des Telekollegs)
Die Interpretation eines Prosatextes ist kaum ohne Berücksichtigung der Erzählperspektive möglich. Vom olympischen Erzähler der auktorialen, allwissenden Perspektive über die personale Erzählsituation bis zum Ich-Erzähler reichen die Möglichkeiten des Dichters. Franz Kafka hat in der vorliegenden Kurzgeschichte den so genannten Ich-Erzähler gewählt. Das gesamte verwirrende Geschehen wird aus der eingeschränkten Perspektive dieses Ichs erzählt. Dieses männliche Ich erlebt geradezu einen Albtraum, nämlich eine unerklärliche schlimme Bedrohung, ja das Hineingeraten in die wohl aussichtslose Situation, für einen Schlag an ein Hoftor zur Rechenschaft gezogen zu werden, den, wenn er überhaupt stattgefunden hat, die Schwester dieses Mannes ausgeführt hat. Der Leser erfährt genauso wie dieses Ich nichts über irgendwelche Hintergründe. Er rätselt mit dem Erzähler über Fragen wie: Warum diese Aufregung wegen des Schlages, der doch keinen Schaden angerichtet hat? Warum ist der, der garantiert nicht gegen das Tor geschlagen hat, so wichtig? Was hat es mit dieser einer Gefängniszelle ähnlichen Stube auf sich? u.v.m. Der Leser ist, so die wahrscheinlich beabsichtigte Wirkung, ebenso verunsichert, verwirrt und hilflos angesichts des Geschehens wie der Ich-Erzähler.
"Bei dieser Geschichte hätte Kafka auch durchaus – wie im Schloss und im Prozess – die personale Erzählsituation wählen können", erklärt Reinhold Pöllmann. "Aber eine auktoriale Erzählsituation wäre meines Erachtens bei Kafka unmöglich. Denn ein auktorialer Erzähler erklärt Hintergründe, erhellt Zusammenhänge, legt Deutungen nahe. All das aber unterscheidet sich von der kafkaesken Erzählweise, die sich gerade durch die charakteristische Verunsicherung von Romanfigur und Leser auszeichnet."
3. Erich Kästner: Porträt eines engagierten Schriftstellers
Geboren am 23.2.1899 in Dresden, besuchte Erich Kästner nach der Volksschule – unterbrochen durch den Militärdienst – das Lehrerseminar in Dresden, das ihn durch seinen rigiden Erziehungsstil, den "Kasernendrill", nachhaltig sensibilisierte und ihm viel Stoff für seine späteren Satiren und Kinderbücher lieferte. In Leipzig begann Kästner 1919 sein Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte. Gleichzeitig begann er an seiner Karriere als Schriftsteller zu basteln. 1920 publizierte er seine ersten Kritiken und profilierte sich bald als ein populärer Gesellschaftssatiriker, der von seinen publizistischen Tätigkeiten leben konnte. Das Berlin der 20er Jahre zog seit 1927 auch Kästner in seinen Bann. Das pralle, etwas dekadente Leben in der deutschen Metropole bot dem unverbesserlichen Moralisten unbegrenztes Anschauungsmaterial für seine journalistischen und eigenen literarischen Arbeiten. Bald avanciert er als erfolgreicher Kinderbuchautor, mit Emil und die Detektive (1928) begann auch sein internationaler Erfolg. Erich Kästner war ein sehr politischer Mensch, der seine Zeit wach beobachtete: Das zeigt auch Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931), der Roman, der heute zu den bedeutendsten Werken neusachlicher Prosa gezählt wird. 1933 sorgte dieser kritische Roman, der ein eindrucksvolles Sitten- und Verfallsgemälde Berlins entwirft, dafür, dass auch Kästners Werke auf dem Index der Nationalsozialisten auftauchten und bei der spektakulären Bücherverbrennung von 1933 mit von der Partie waren. Zwei Mal (1934 und 1937) wurde Kästner von der Gestapo verhaftet; im Januar 1943 erhielt er endgültiges Schreibverbot. Trotzdem durfte er sich noch als Drehbuchautor für den Ufa -Film Münchhausen versuchen. Nach dem Krieg wurde Kästner in München einer der führenden Journalisten und gründete zunächst das Kabarett "Die Schaubude" (1945) mit und später "Die kleine Freiheit" (1951).
Über dem Kinderbuchautor Kästner wird oft vergessen, wie vielseitig dieser politisch wachsame Schriftsteller war: Überwältigenden Erfolg konnten auch seine Gedichtbände Herz auf Taille (1928), Lärm im Spiegel (1929), Ein Mann gibt Auskunft (1930) und Gesang zwischen den Stühlen (1932) verbuchen, "seelisch verwendbar" sollten seine Strophen sein, so Kästner in , Dr. Erich Kästners lyrische Hausapotheke (1936). Mit einem Kinderbuch Der kleine Mann und die kleine Miss beendete Kästner 1967 sein literarisches Schaffen und zog sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück. Am 29.07.1974 starb er in München.
4. Das Märchen von der Vernunft: Textanalyse
Das Märchen von der Vernunft heißt die in die Form des Märchens verpackte Satire Kästners, die es nun im Zuge von zwei Übungsaufgaben zu analysieren gilt.
Erich Kästner: Das Märchen von der Vernunft
Es war einmal ein netter alter Herr, der hatte die Unart, sich ab und zu vernünftige Dinge auszudenken. Das heißt: zur Unart wurde seine Gewohnheit eigentlich erst dadurch, daß er das, was er sich jeweils ausgedacht hatte, nicht für sich behielt, sondern den Fachleuten vorzutragen pflegte. Da er reich und trotz seiner plausiblen Einfälle angesehen war, mußten sie ihm, wenn auch mit knirschenden Ohren, aufs geduldigste zuhören. Und es gibt gewiß für Fachleute keine ärgere Qual als die, lächelnden Gesichts einem vernünftigen Vorschlage zu lauschen. Denn die Vernunft, das weiß jeder, vereinfacht das Schwierige in einer Weise, die den Männern vom Fach nicht geheuer und somit ungeheuerlich erscheinen muß. Sie empfinden dergleichen zu Recht als einen unerlaubten Eingriff in ihre mühsam erworbenen und verteidigten Befugnisse. Was, fragt man sich mit ihnen, sollten die Ärmsten wirklich tun, wenn nicht sie herrschten, sondern statt ihrer die Vernunft regierte! Nun also.
Eines Tages wurde der nette alte Herr während einer Sitzung gemeldet, an der die wichtigsten Staatsmänner der Erde teilnahmen, um, wie verlautete, die irdischen Zwiste und Nöte aus der Welt zu schaffen. "Allmächtiger!" dachten sie. "Wer weiß, was er heute mit uns und seiner dummen Vernunft wieder vorhat!" Und dann ließen sie ihn hereinbitten. Er kam, verbeugte sich ein wenig altmodisch und nahm Platz. Er lächelte. Sie lächelten. Schließlich ergriff er das Wort.
"Meine Herren Staatshäupter und Staatsoberhäupter", sagte er, "ich habe, wie ich glaube, einen brauchbaren Gedanken gehabt; man hat ihn auf seine praktische Verwendbarkeit geprüft; ich möchte ihn in Ihrem Kreise vortragen. Hören Sie mir, bitte, zu. Sie sind es nicht mir, doch der Vernunft sind Sie's schuldig."
Sie nickten, gequält lächelnd, mit ihren Staatshäuptern, und er fuhr fort: "Sie haben sich vorgenommen, Ihren Völkern Ruhe und Frieden zu sichern, und das kann zunächst und vernünftigerweise, so verschieden Ihre ökonomischen Ansichten auch sein mögen, nur bedeuten, daß Ihnen an der Zufriedenheit aller Erdbewohner gelegen ist. Oder irre ich mich in diesem Punkte?"
"Bewahre!" riefen sie. "Keineswegs! Wo denken Sie hin, netter alter Herr!" "Wie schön!" meinte er. "Dann ist Ihr Problem gelöst. Ich beglückwünsche Sie und Ihre Völker. Fahren Sie heim und bewilligen Sie aus den Finanzen Ihrer Staaten, im Rahmen der jeweiligen Verfassung und geschlüsselt nach Vermögen, miteinander einen Betrag, den ich genauestens habe errechnen lassen und zum Schluß nennen werde! Mit dieser Summe wird folgendes geschehen: Jede Familie in jedem Ihrer Länder erhält eine kleine, hübsche Villa mit sechs Zimmern, einen Garten und einer Garage sowie ein Auto zum Geschenk. Und da hintendrein der gedachte Betrag noch immer nicht aufgebraucht sein wird, können Sie, auch das ist kalkuliert, in jedem Ort der Erde, der mehr als fünftausend Einwohner zählt, eine neue Schule und ein modernes Krankenhaus bauen lassen. Ich beneide Sie. Denn obwohl ich nicht glaube, daß die materiellen Dinge die höchsten irdischen Güter verkörpern, bin ich vernünftig genug, um einzusehen, daß der Frieden zwischen den Völkern zuerst von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt. Wenn ich eben sagte, daß ich Sie beneide, habe ich gelogen. Ich bin glücklich." Der nette alte Herr griff in seine Brusttasche und zündete sich eine kleine Zigarre an.
Die übrigen Anwesenden lächelten verzerrt. Endlich gab sich das oberste der Staatsoberhäupter einen Ruck und fragte mit heiserer Stimme: "Wie hoch ist der für Ihre Zwecke vorgesehene Betrag?" "Für meine Zwecke?" fragte der nette alte Herr zurück, und man konnte aus seinem Ton ein leichtes Befremden heraushören. "Nun reden Sie schon!" rief das zweihöchste Staatsoberhaupt unwillig. "Wieviel Geld würde für den kleinen Scherz gebraucht?"
"Eine Billion Dollar", antwortete der nette alte Herr ruhig. "Eine Milliarde hat tausend Millionen, und eine Billion hat tausend Milliarden. Es handelt sich um eine Eins mit zwölf Nullen." Dann rauchte er wieder an seiner kleinen Zigarre herum.
"Sie sind wohl vollkommen blödsinnig!" schrie jemand. Auch ein Staatsoberhaupt. Der nette alte Herr setzte sich gerade und blickte den Schreier verwundert an. "Wie kommen Sie denn darauf?" fragte er. "Es handelt sich natürlich um viel Geld. Aber der letzte Krieg hat, wie die Statistik ausweist, ganz genau soviel gekostet!" Da brachen die Staatshäupter und Staatsoberhäupter in tobendes Gelächter aus. Man brüllte geradezu. Man schlug sich und einander auf die Schenkel, krähte wie am Spieß und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Der nette alte Herr schaute ratlos von einem zum andern. "Ich begreife Ihre Heiterkeit nicht ganz", sagte er. "Wollen Sie mir gütigst erklären, was Ihnen solchen Spaß macht? Wenn ein langer Krieg eine Billion gekostet hat, warum sollte dann ein langer Frieden nicht dasselbe wert sein? Was, um alles in der Welt, ist denn daran komisch?"
Nun lachten sie alle noch lauter. Es war ein rechtes Höllengelächter. Einer konnte es im Sitzen nicht mehr aushalten. Er sprang auf, hielt sich die schmerzenden Seiten und rief mit der letzten ihm zu Gebote stehenden Kraft: "Sie alter Schafskopf! Ein Krieg – ein Krieg ist doch etwas ganz anderes!"
Die Staatshäupter, der nette alte Herr und ihre lustige Unterhaltung sind völlig frei erfunden. Daß der Krieg eine Billion Dollar gekostet hat und was man sonst für denselben Betrag leisten könnte, soll, versichert eine in der "Frankfurter Neuen Presse" zitierte amerikanische Statistik, hingegen zutreffen.
Übungsaufgabe 1. In welchem Zusammenhang wird Vernunft in dieser Geschichte gebraucht und wie wird sie gekennzeichnet?
Wie man an diese Aufgabe herangeht, erklärt Reinhold Pöllmann, der auch diese Lösung für die Telekollegiaten erarbeitet hat. "Mein Tipp ist, ganz prosaisch. Man gehe einfach an den Text heran und markiere alle Passagen, in denen die Worte Vernunft, vernünftig und Unvernunft vorkommen. Wenn ich diese Passagen dann noch einmal von links nach rechts, von vorne und rückwärts anschaue, dann muss ich die Zusammenhänge erkennen."
Lösungsvorschlag von Reinhold Pöllmann
In diesem "Märchen" Erich Kästners ist "Vernunft" der Zentralbegriff, das Schlüsselwort zum Verständnis. Der Leser erfährt von einem "netten alten Herrn", der sich "vernünftige Dinge" ausdenke. Und diese Tatsache werde für Fachleute zum Ärgernis weil Vernunft das Schwierige so vereinfache, dass damit ihre persönlichen Machtpositionen gefährdet seien. In der Sitzung der Staatsmänner wird nun die Vernunft sogar zum Argument, diese politischen Entscheidungsträger zu zwingen, sich den Vorschlag des alten Herrn anzuhören. Und schließlich wird die Vernunft zur Methode im Sinne von "vernünftig", ist also schlüssiges, logisches, folgerichtiges Handeln, wenn man von einer gemeinsamen Zielvorstellung ausgeht. Dieses Ziel, dieses zu lösende Problem ist die Sicherung von "Ruhe und Frieden". Dem können die "Staatshäupter" nicht widersprechen. Auch die These, dass "der Frieden zwischen den Völkern von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt", wird als vernünftig akzeptiert. Erst dort, wo die Vernunft die Problemlösung als einfaches Rechenexempel vorstellt: Man verwende die Summe Geldes, die der letzte Krieg gekostet hat, und statte dafür die Menschen mit nützlichen Dingen wie z.B. Villen, Autos, Schulen, Krankenhäuser aus, reagieren die Staatsmänner völlig unvernünftig mit ausufernder Heiterkeit und Gelächter, ohne jede Bereitschaft, den Vorschlag sachlich auf seine Realisierbarkeit hin zu überprüfen. Unvernunft siegt so in diesem Märchen über Vernunft. Bei der Lösung dieser Aufgabe kommt es darauf an, immer wieder dem Bogen zum Text zurückzuschlagen und die Deutungen mit Stellen zu belegen. Dasselbe gilt für die zweite Aufgabe zu diesem Text.
Aufgabe 2: Welche Kernaussage vermittelt die Geschichte?
Lösungsvorschlag von Reinhold Pöllmann
Die Kernaussage dieser in die äußere Form eines Märchens verpackten Satire ist m.E. ein sehr hartes Urteil, das Erich Kästner über die Art und Weise, wie Politik betrieben wird, fällt. Die "wichtigsten Staatsmänner der Erde" werden zwar im letzten Absatz als völlig frei erfunden bezeichnet, doch der Dichter will in jedem Falle exemplarisch ihre Vorgehensweise kritisieren. Denn dass die Weltgeschichte eine Geschichte von Kriegen ist, die von irgendwelchen "Staatshäuptern", d.h. verantwortlichen Politikern beschlossen wurden, ist bekannt. Und Erich Kästner hält es für höchst unvernünftig, wenn man Kriege führt, deren Kosten so hoch sind, dass man für die gleiche Summe die Menschen mit vielen angenehmen materiellen Gütern ausstatten könnte, die sie zufrieden und damit friedlich machen würden. Vielleicht ist die Botschaft dieser Kurzgeschichte auf einen einfachen Nenner zu bringen: Der Friede dürfte ruhig teuer sein, wenn dadurch schreckliche Kriege vermieden würden, doch dem Dichter bleibt angesichts der eigennützigen, machtbesessenen, unvernünftigen Handlungsweise der Regierenden nur das Mittel der ohnmächtigen Satire, um den Widersinn anzuprangern, ihn zu entlarven.
Die Frage nach der Kernaussage, dieser Klassiker der Textanalyse, hat es zuweilen in sich. Die Antwort kann nämlich nicht nur ins Schwarze treffen oder komplett daneben gehen, sondern auch strittig bleiben.
Im Fall des Kästner-Märchens muss sie ins Schwarze treffen, weil die Botschaft des Textes selbst klar ist. Bei Kafka aber, unserem vorigen Beispiel, da ist das anders. Da haben selbst Literaturwissenschaftler Probleme, hier eine eindeutige Botschaft herauszufiltern. Die einen sehen in Kafkas Texten die Suche nach Gott, die anderen den Versuch, das Trauma eines übermächtigen Vaters zu verwinden, Dritte erblicken hierin die Schwierigkeit, mit einer übermächtigen Bürokratie fertig zu werden oder überhaupt mit einer Staatsmacht.
Auf die Frage wie er vorging, wenn er mit seinen Schülern Romane analysierte und interpretierte, antwortete Reinhold Pöllmann: "Eigentlich genau so, wie ich selber an einen Roman herangehe: Mit möglichst wenig Vorurteilen und mit wenig Vorwissen. Ich lese ihn, bekomme einen Eindruck, ich stelle selber Fragen, mache Anmerkungen dazu. Im Unterricht sammeln wir all die Eindrücke, Fragen und Anmerkungen und auf dieser Basis kann man allmählich eine immer umfassendere Analyse des Romans machen: Fragen stellen nach den soziologischen und psychologischen Hintergründen etc., und das kann enden mit dem Suchen in Fachbüchern und im Internet."
Eine Anmerkung zum Schluss, die Mut machen soll, mit den eigenen Einschätzung von Romanen nicht hinter dem Berg zu halten "Die Blechtrommel ist kein guter Roman, doch in dem Grass scheint – alles in allem – Talent zu stecken. Er muss mit den Feinden seines Talents kämpfen – sie sind in seiner eigenen Brust zu finden. Wir wünschen ihm sehr, sehr viel Glück." Gezeichnet 1960, Marcel Reich-Ranicki.