Telekolleg - Deutsch


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Telekolleg Literatur - Folge 1 Was ist Literatur?

Literatur wird unterschiedlich definiert. Doch wann wird ein Roman als Kunst und wann als Kitsch bezeichnet? Liegt die Bedeutung von Literatur vielleicht doch eher im Auge des Betrachters?

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Vordergrund Bücherstapel, Frau liest vor Bücherwand | Bild: picture-alliance/dpa

Worauf kommt es in der Literatur abgesehen von den "schönen Worten" (siehe Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg) noch an? Um diese Frage dreht sich das Telekolleg Deutsch in diesem Trimester. Zunächst aber ist grundsätzlicher zu klären: Was ist eigentlich Literatur?

1. Literatur – was ist sie, was kann sie, was soll sie?

So verstehen ausgewählte Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts Literatur:

Jean Paul Sartre (1905-1980), der große französische Existentialist, vertritt in seinem 1947 erschienen Essay Was ist Literatur? entschieden die littérature engagée: Der Schriftsteller soll, wie der Philosoph sagt "die Welt aus der Warte der Befreiung des Menschen darlegen." Literatur dient der Emanzipation und muss die Möglichkeit ergreifen, die Welt zu verändern.

Günter Grass (geb. 1927), der mit seiner Blechtrommel für einigen Aufruhr in der ausgehenden Adenauerzeit gesorgt hat, zeigt sich skeptisch, was die unmittelbaren Wirkungen der Literatur auf die Gesellschaft angeht. "Aber ich glaube, eine langfristige Wirkung ist der Literatur nicht abzusprechen. Und ich glaube auch, das ist die Stärke der Literatur, dass sie nachhaltig wirken kann." In letzter Zeit ist der Literaturnobelpreisträger allerdings mit seinen israelkritischen Gedichten sehr ins Kreuzfeuer der öffentlichen Diskussion geraten.

• Als 1968 im Zuge der Studentenbewegung wieder einmal "das Sterbeglöcklein für die Literatur" geläutet wurde (H.M. Enzensberger im legendären Kursbuch vom 15. November 1968, S.168) schätzte der Herausgeber dieses engagierten Heftes die Möglichkeiten der Literatur wie folgt ein: "Eine revolutionäre Literatur existiert nicht, es wäre denn in einem völlig phrasenhaften Sinn des Wortes. Das hat objektive Gründe, die aus der Welt zu schaffen nicht in der Macht der Schriftsteller liegt. Für literarische Kunstwerke lässt sich eine wesentliche Funktion in unserer Lage nicht angeben. Daraus folgt, dass sich auch keine brauchbaren Kriterien zu ihrer Beurteilung finden lassen." Enzensberger betont das aus der Funktionslosigkeit resultierende "Risiko, das fortan zum Schreiben von Gedichten, Erzählungen und Dramen gehört: das Risiko, dass solche Arbeiten von vornherein, unabhängig von ihrem Scheitern und Gelingen, nutz- und aussichtslos sind. Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden." (Hans Magnus Enzensberger S.195)

• "Literatur ist für mich alles, was geschrieben ist und irgendwie von Träumen motiviert ist." So der Schweizer Schriftsteller Urs Richle, der 2004 den Anerkennungspreis der Kulturstiftung St. Gallen erhielt, ein Vertreter der neueren deutschsprachigen Literatur, die wieder das Erzählen entdeckt hat und die schöne Literatur als eine "gigantische Traumfabrik" begreift.

• Die "Lust am Fabulieren, am freien Fluss der Assoziationen" ist es, die Maike Wetzel (geb.1974) an der Literatur reizt. Mehr zu der mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin: 1. Trimester Sprachkompetenz Folge 7.

• "Was wird Literatur?" fragt der Essayist Lothar Baier in seinem gleichnamigen Essayband, der die Frage nach der Zukunft der Erzählformen im Anschluss an Sartres Essay Was ist Literatur neu aufrollt. Baiers Buch ist im Antje Kunstmann Verlag erschienen.

Wie wird Literatur wissenschaftlich verstanden?

"Literatur ist die Gesamtheit alles Geschriebenen, die Geschichte der Literatur reicht etwa 5000 Jahre zurück. Mit der Schrift wurde eine neue Welt geschaffen, die bevölkert ist mit Menschen, die nicht wirklich aus Fleisch und Blut sind, aber die so sind, als wären sie aus Fleisch und Blut: Effi Briest, Judith, Madame Bovary. Diese Menschen leben mit uns, arbeiten mit uns und wir erkennen uns in diesen Gestalten wieder. Darüber hinaus ist Literatur etwas, was man das kollektive Gedächtnis der Menschheit nennen könnte", erklärt Professor em. Dr. phil. Wolfgang Frühwald.

Wie wird Literatur aus der Perspektive des Verlagswesens betrachtet?

"Literatur ist die andere Geschichtsschreibung" – so bringt Dr. Martin Hielscher, Verlagslektor und Honorarprofessor, seine Auffassung der Literatur auf den Punkt: "Literatur ist Kunst. Sie ist das Ensemble von Geschichten über das Leben, von Geschichten, die immer neu erzählt werden müssen, weil das Leben endlich ist."

2. Erfolgreiche Gegenwartsschriftsteller

Rebecca Martin (Jahrgang 1990) machte vor drei Jahren mit ihrem ersten Roman Frühling und so auf sich aufmerksam. Das erotische Buch, in dem sie die sexuellen Abenteuer einer 17-jährigen auf der Suche nach der großen Liebe beschreibt, wurde ein Bestseller. Ihr neuer Roman Und alle so yeah (DuMont September 2012) hat autobiographische Züge. Sie erzählt darin von der 19-jährigen Elina, die noch vor Schulabschluss einen Bestseller schreibt. Jetzt hat sie ihr Abitur und sehr viel Geld in der Tasche. Die große Freiheit mit finanzieller Absicherung eröffnet ihr viele Wege, doch sie kann sich nicht entscheiden. Was soll sie mit ihrem Leben anfangen? Sie lässt sich treiben, bricht mit ihrem Bruder zu einem „road trip“ auf. Die Geschichte ist ein einfühlsames Porträt einer hochgejubelten Bestellerautorin, die im wirklichen Leben eine ganz normale junge Frau ist.

In einem Interview in der Literatur Community vom August 2012 äußert sie auf die Frage, was Literatur für sie ist, ob es stimme, dass sie „intellektuelle, verschwafelte“ Literatur nicht ausstehen könne: „Nein – ich habe kein Problem mit so einer Form von Literatur. Ich lese Bücher eben nicht so unglaublich gerne, wenn dieses Selbstdarstellerische im Vordergrund steht. Dass eben nicht die Geschichte erzählt wird, sondern darauf geachtet wird, wie man selber rüberkommt im Schreiben. Aber klar, es hat sicher seine Daseinsberechtigung. Ich mag es eben lieber, wenn die Geschichte gut erzählt wird, getragen von einer klaren Sprache, auch einer gewissen Leichtigkeit. Intellektuell muss ja nicht zwangsläufig mit verschwurbelten Sätzen einhergehen.“

Benjamin Lebert verbuchte 1999 mit Crazy einen sensationellen Erfolg. Der autobiografisch gefärbte Roman erzählt von der Pubertät eines 17-jährigen "Krüppels", der links gelähmt ist an Arm und Bein. In einem früheren Interview zeigte sich der damals junge Autor amüsiert und stolz darüber, dass die großen Feuilletons darüber debattieren, ob dieser Roman nun gute Literatur ist oder nicht.

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald ordnete diesen Roman durchaus schon in die Schicht der "höherrangigen Literatur" ein, nicht allein deswegen, weil er zur Schullektüre "erhoben" wurde. Die Problematik des empfindsamen Pubertierenden, der in eine als feindlich empfundene Erwachsenenwelt hineinwächst, ziehe seit der Romantik eine breite interessierte Leserschaft an. Gerade diese Thematik und die sensible Zeichnung der Charaktere führten zum Erfolg dieses Buches.

3. Literatur und Markt

Literatur quo vadis? Welche Veränderungen bringt das ebook Zeitalter?

Im Jahre 1450 erfand Johannes Gutenberg den Buchdruck. Zuvor überwiegend dem Klostervolk vorbehalten, wurde Wissen und Literatur nun allen Menschen zugänglich. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Medienrevolution. Und auch jetzt ist wieder eine Revolution im Gange. Im Gegensatz zum gedruckten Buch bietet die neue Technik der ebooks (bzw der ebook Reader) die Möglichkeit, Texte mit multimedialen Elementen zu verbinden. Inwieweit diese Verschmelzung eine Akzeptanz bei der Leserschaft erfahren wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Generell sind ebooks auf dem Vormarsch, obgleich viele Menschen weiter das gedruckte Buch, die Lektüre zum Anfassen, der digitalen Variante vorziehen. Je ausgereifter die Technik, umso beliebter werden ebooks allerdings und es ist absehbar, dass sie das gute alte „Gutenberg-Buch“ zunächst in den Hintergrund, und vielleicht sogar ganz verdrängen werden.

Ein ganz entscheidender Vorteil ist dabei das Gewicht eines ebook Readers. Ein Gerät wiegt etwa soviel wie in Taschenbuch, hat dabei aber die Speicherkapazität für tausende Bücher. Musste man noch vor wenigen Jahren schwer an der Urlaubslektüre tragen, ist es heute möglich die komplette Heimbibliothek im Handgepäck zu verstauen. Ein weiterer Vorteil ist das einfache Einkaufen. Rund um die Uhr kann man ebooks in online shops erwerben und downloaden.

Spannend ist aber vor allem die Frage, ob und wie sich die Literatur selbst in den nächsten Jahrzehnten ändern wird. Aus dem reinen Lesevergnügen eines Buches könnte ein Leseerlebnis werden. Gespickt mit Gimmicks kann ein multimediales Gesamtwerk entstehen, das dem Leser neben dem „trockenen Text“ eine Vielzahl weiterer Features bietet. So wurde bereits 2009 auf der Frankfurter Buchmesse der Roman Schlangenfutter von Miriam Pharo vorgestellt. Ein mit mouse-roll-over Gedankenblasen animiertes Buch.

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2012 berichtet der Autor, Dichter, Regisseur und Kritiker Alban Nikolai Herbst von seinem Online Buch Experiment. In Echtzeit schrieb er acht Stunden täglich, lies Kommentare zu und baute diese in seine Geschichte mit ein. Manche Kommentatoren wurden gar zu Romanfiguren. Das daraus entstandene Buch musste allerdings vor dem Druck umgeschrieben werden, da „vieles, das im Netz funktioniert, im Buch nicht funktioniert“. Dennoch hält Herbst den Ansatz, eine Erzählform zu finden, die im Internet vervollständigt wird, für richtig, ja geradezu notwendig.

Die Diskussionen über das Medium ebook dauern an, nicht alles was machbar ist, findet sein Publikum. Aber die digitale Welt bietet visionären Autoren eine unendlich scheinende Spielwiese. Man darf gespannt sein, welchen Einfluss das Thema Multimedialität auf das Buch der Zukunft hat, ja ob es das Buch wie wir es heute kennen in einigen Jahrzehnten noch geben wird. Und vielleicht muss die ohnehin schon vielfältige Definitionen von Literatur um weitere Auslegungen ergänzt werden.

Fraglich ist in diesem Zusammenhang auch, inwieweit sich die Verlagsstrukturen ändern werden. Der Verlag als Mittler zwischen Autor/in und Leser/in könnte eine immer kleinere Rolle spielen – oder aber im Kampf um die Wahrung von Urheberrechten ganz im Gegenteil an Bedeutung gewinnen.

Quellen:

  • Hans Magnus Enzensberger. Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. Kursbuch 15, November 1968 (Nachdruck Zweitausendeins ) Frankfurt a.M. 1976
  • Wolfgang Beutin, Klaus Elert, Wolfgang Emmerich (Hrsg.) Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 1994
  • Volker Meid. Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 1999

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