Telekolleg - Deutsch


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Telekolleg Deutsch - Folge 11 Literarische Textanalyse am Beispiel Drama

Dramentexte bestehen fast ausschließlich aus Dialogen und Monologen der Figuren. Ausgangsbasis für eine Interpretation ist demnach die Frage: Wer sagt wann, was, zu wem und warum?

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Georg Büchners Woyzeck in Weimar | Bild: picture-alliance/dpa

Wer sagt wann, was, zu wem und warum? Mit dieser Fragestellung kommt man bei einer literarischen Textanalyse zum Drama schon recht weit. Denn das "Sagen" ist im Drama das A und O. Bei der Lektüre eines Dramentextes hat man außer den meist spärlichen Regieanweisungen nur einen Anhaltspunkt für die Interpretation: die Rede der Figuren. Es gibt keinen Erzähler, wie zum Beispiel im Roman, der Sachverhalte und Gegebenheiten außerhalb von Dialogen oder Monologen erklären könnte.

1. Georg Büchner: Woyzeck

Den Stoff zu dem erst 1913 uraufgeführten Drama Büchners lieferte eine wahre Begebenheit: "Ein Soldat namens Woyzeck hatte in Leipzig seine Geliebte umgebracht und wurde dafür verurteilt und hingerichtet. Es entstand ein Streit über den Gemütszustand und die Zurechnungsfähigkeit des Mörders. Büchner bekam Zugang zu den gerichtsmedizinischen Gutachten des Hofrats Dr. Clarus. Ihn interessierte an dem Fall vor allem die soziale Determiniertheit des Delinquenten und so legte er auch im Drama seine Figur an. Büchners Woyzeck hat kein Geld und nutzt jede Gelegenheit, um seine finanzielle Lage aufzubessern. Denn Marie, seiner Verlobten, mit der er ein uneheliches Kind hat, genügt das Leben nicht, das Woyzeck ihr bieten kann. Sie bandelt mit einem Major an und Woyzeck sieht keinen anderen Ausweg, als sie umzubringen", erklärt Friedel Schardt (Deutschlehrer und Fachbuchautor).

Woyzeck, der zu den meistgelesenen und gespielten Dramen des 20. Jahrhunderts gehört, ist nur in mehreren fragmentarischen Entwürfen überliefert, aus denen nicht eindeutig hervorgeht, wie Büchner sich den Ablauf der Szenen vorstellte. In den meisten zeitgenössischen Ausgaben steht die Rasierszene am Anfang.

BEIM HAUPTMANN
Hauptmann auf einem Stuhl; Woyzeck rasiert ihn.

HAUPTMANN. Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht mir ganz schwindlig. Was soll ich dann mit den zehn Minuten anfangen, die Er heut zu früh fertig wird? Woyzeck, bedenk Er: Er hat noch seine schöne dreißig Jahr zu leben, dreißig Jahr! Macht dreihundertsechzig Monate! Und Tage! Stunden! Minuten! Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck!

WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN. Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke. Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung! Ewig, das ist ewig, das ist ewig — das siehst du ein; nun ist es aber wieder nicht ewig, und das ist ein Augenblick, Ja, ein Augenblick. — Woyzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag herumdreht! Was 'n Zeitverschwendung! Wo soll das hinaus? Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd melancholisch.

WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN. Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat. — Red Er doch was, Woyzeck! Was ist heut für Wetter?

WOYZECK. Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind!

HAUPTMANN. Ich spür's schon, 's ist so was Geschwindes draußen; so ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. (Pfiffig) Ich glaub, wir haben so was aus Süd-Nord?

WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann.

HAUPTMANN. Ha! ha! ha! Süd-Nord! Ha! ha! ha! Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm — (Gerührt) Woyzeck, Er ist ein guter Mensch — aber (mit Würde) Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt — ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir.

WOYZECK. Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen!

HAUPTMANN. Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag: Er, so mein ich Ihn, Ihn —

WOYZECK. Wir arme Leut ... Sehn sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat ... Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.

HAUPTMANN. Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch! Fleisch und Blut? Wenn ich am Fenster lieg, wenn's geregnet hat, und den weißen Strümpfen so nachseh, wie sie über die Gassen springen — verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend! Die Tugend! Wie sollte ich dann die Zeit herumbringen? Ich sag mir immer: du bist ein tugendhafter Mensch, (gerührt) ein guter Mensch, ein guter Mensch.

WOYZECK. Ja, Herr Hauptmann, die Tugend — ich hab's noch nit so aus. Sehn Sie — wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr war und hätt ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.

HAUPTMANN. Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. — Der Diskurs hat mich ganz angegriffen. Geh jetzt, und renn nicht so; langsam, hübsch langsam die Straße hinunter!

2. Aufgabe - Figurencharakteristik

Charakterisieren Sie die beiden Hauptfiguren und beschreiben Sie das Verhältnis der beiden zueinander, lautet die Übungsaufgabe.

Und hier der Lösungsvorschlag von Friedel Schardt:

Der Figur des Hauptmanns geht alles ab, was man von einem Offizier eigentlich erwartet. Zögerlich, ängstlich, keine Spur von einem Haudegen, triefend vor Selbstmitleid und selbstgerecht jongliert er mit Worthülsen, die wohl einmal wichtige Inhalte hatten, nun aber aus seinem Mund unglaubwürdig klingen. Er besteht auf seinem Rang, der ihm in jeder Situation gegenüber dem Soldaten Woyzeck Recht gibt. Er kann es sich leisten, Tugend und Moral einzufordern und gut gemeinte Ratschläge zu geben, wie das am Ende der Szene geschieht. Woyzeck hingegen ist der bescheidene Untergebene, der seinem selbstzufriedenen Vorgesetzten dienstbeflissen gehorcht. Dabei reicht es zunächst nur zu einem "Jawohl". Erst als sein Kind zur Sprache kommt, gibt Woyzeck mehr von seiner Haltung und Lebenseinstellung zu erkennen. Jetzt wird deutlich, dass er aufgrund seiner sozialen Situation sich ein gutes Gewissen einfach nicht leisten kann. Den Vorwurf, er habe keine Moral, kontert er allerdings mit einem Bibelwort. Mit dieser Antwort freilich kann der Hauptmann überhaupt nichts anfangen. Er ist verwirrt und das zeigt um so deutlicher, dass er eben nur mit Worthülsen jongliert, während Woyzeck, so schwer es ihm auch fällt, seine Situation zu artikulieren, eben doch auch immer wieder Wahrheiten ausspricht. Er sieht, dass "arme Leut" wie er mit der Tugend ihre Probleme haben. Gewiss, so vermutet Woyzeck, "es muss etwas Schönes sein um die Tugend", aber er weiß auch: "Ich bin ein armer Kerl". Da bleibt ihm keine Zeit für die Tugend. Mit seiner Schlussbemerkung, der Diskurs habe ihn sehr angegriffen, krönt der Hauptmann die Karikatur seiner selbst.

"Bei der Figurencharakteristik, dieser beliebten Prüfungsaufgabe, kann nicht viel schief gehen, wenn man sich angewöhnt, folgende Fragen an den Text zu stellen:

  • Um wen handelt es sich überhaupt? Alter, Geschlecht, Familienzugehörigkeit etc.
  • In welcher Situation befindet sich die Figur?
  • Was tut die Figur?
  • Wie agiert sie im Rahmen der gesamten Handlung?
  • Welche Ziele verfolgt sie, welche Gründe hat sie?
  • All das kann man noch vertiefen und fragen: Wie schätzt die Figur sich selbst ein, wie wird sie von anderen eingeschätzt", erläutert Friedel Schardt.

Bei der Figurencharakteristik sind Zitate als Belege zwar wichtig, aber im Mittelpunkt sollten die eigenen Formulierungen stehen. Es gilt, das, was die Figuren sagen, auf den Begriff zu bringen, zu abstrahieren und das Gesagte ins Allgemeine zu wenden. Ein Beispiel aus dem Text macht das klar: Der Hauptmann sagt, "Moral, das ist, wenn man moralisch ist". Daraus wird in der Figurencharakteristik: "Der Hauptmann jongliert mit Worthülsen."

3. Aufgabe - Welchen Aufschluss gibt die Szene für die Gesamtsituation Woyzecks? Lösungsvorschlag von Friedel Schardt

Die Szene macht deutlich: Woyzeck ist in einer fatalen sozialen Situation: Er ist als Soldat Untergebener des Hauptmanns, muss diesem aber auch außerhalb der Kaserne zu Diensten sein. Er sieht sich konfrontiert mit dessen Forderungen nach Tugend und Moral, weiß aber gleichzeitig, dass er nicht in der Lage ist, diesen Forderungen gerecht zu werden. Er lässt erkennen, dass er zwar versucht zu denken, dass er aber andererseits vieles "noch nit so aus" hat. Er weiß um seine Lage, aber er rebelliert nicht. Er akzeptiert sie und versucht sich zu arrangieren. Tugend und Moral, die das Bürgertum fordert – und da kann man den Hauptmann als einen Vertreter des Bürgertums sehen –, stellt er keineswegs in Frage, im Gegenteil. Sie könnten sehr wohl etwas Schönes sein. Allerdings: Seine soziale Lage lässt ihm keinen Raum, diesen Vorstellungen zu entsprechen.

"Die Lösung war in diesem Fall recht einfach", erklärt Friedel Schardt. "Denn die Gesamtsituation ist in jeder einzelnen Szene präsent, sie wird nur aus einer anderen Richtung beleuchtet." Keine entscheidende Rolle spielt in diesem Fall auch, ob es sich nun bei der Rasierszene um den Anfang des fragmentarisch überlieferten Stücks handelt oder nicht. Denn Büchners Drama ist anders aufgebaut als die klassischen Dramen, wo wir in der ersten Szene die Voraussetzungen der Handlung erfahren, die dann ansteigt und zu einer Peripetie und Katastrophe führt. "Bei Woyzeck ist das Problem immer schon da, die Katastrophe ist in jeder Szene schon vorhanden. In diesem Stück wird ein Zustand beleuchtet, bewusst gemacht, erklärt. Das macht das Stück zu einem modernen Stück", erläutert Friedel Schardt.

4. Friedrich Schiller Don Carlos: Dritter Akt 10. Auftritt

Don Carlos entstand rund 50 Jahre vor dem Woyzeck. Die Uraufführung dieses mehrmals überarbeiteten Stücks war 1787 in Hamburg. Wir konzenterieren uns auf eine bekannte Schlüsselszene, den zehnten Auftritt aus dem dritten Akt. Vorher war am Hof des spanischen Königs Folgendes passiert:

Don Carlos, der Sohn des spanischen Königs Philipp II (der 1556-1598 regierte), liebt seine jugendliche Stiefmutter Elisabeth und hasst seinen Vater. Der Grund liegt noch vor dem Beginn des Stücks: Philipp hatte dem jungen Thronfolger Elisabeth ausgespannt. Elisabeth weist Don Carlos inzwischen zurück: "Elisabeth war Ihre erste Liebe, Ihre zweite sei Spanien" (zitiert nach Kindler). Mit diesem Weltreich hat Don Carlos indes etwas anderes im Sinn als Philipp: Unter dem Einfluss seines Jugendfreundes, des Marquis von Posa, der aus Brüssel zurückgekehrt ist, verfolgt er die Befreiung der Niederlande von der spanischen Fremdherrschaft. Don Carlos will von seinem Vater das Kommando über die in den Niederlanden stationierten spanischen Truppen erhalten, doch sein Vater traut ihm nicht; zum einen, weil er zu weich sei, und zum anderen, weil er fürchtet, sein Sohn hege Mordpläne gegen ihn. Philipp ruft den Marquis von Posa zu einer Audienz, um Näheres über Flandern zu erfahren und zu hören, warum Posa den Dienst an der Krone quittiert hat. Wir zitieren die eingeblendete Stelle des Don Carlos (2998ff.) aus dem link: gutenberg.spiegel.

Achten Sie beim Lesen schon einmal auf die Staatsideen der beiden Figuren.

Zehnter Auftritt. Der König und Marquis von Posa.

(Dieser geht dem König, sobald er ihn gewahr wird, entgegen und läßt sich vor ihm auf ein Knie nieder, steht auf und bleibt ohne Zeichen der Verwirrung vor ihm stehen.)

König (betrachtet ihn mit einem Blick der Verwunderung). Mich schon gesprochen also?

Marquis. Nein.

König. Ihr machtet
Um meine Krone Euch verdient. Warum
Entziehet Ihr Euch meinem Dank? In meinem
Gedächtniß drängen sich der Menschen viel.
Allwissend ist nur Einer. Euch kam's zu,
Das Auge Eures Königes zu suchen.
Weßwegen thatet Ihr das nicht?

Marquis. Es sind
Zwei Tage, Sire, daß ich ins Königreich
Zurück gekommen.

König. Ich bin nicht gesonnen,
In meiner Diener Schuld zu stehn – Erbittet
Euch eine Gnade.

Marquis. Ich genieße die Gesetze.

König. Dies Recht hat auch der Mörder.

Marquis. Wie viel mehr
Der gute Bürger! – Sire, ich bin zufrieden.

König (für sich). Viel Selbstgefühl und kühner Muth, bei Gott!
Doch das war zu erwarten – Stolz will ich
Den Spanier. Ich mag es gerne leiden,
Wenn auch der Becher überschäumt – Ihr tratet
Aus meinen Diensten, hör' ich?

Marquis. Einem Bessern
Den Platz zu räumen, zog ich mich zurücke.
König. Das thut mir leid. Wenn solche Köpfe feiern,
Wie viel Verlust für einen Staat –
Vielleicht Befürchtet Ihr, die Sphäre zu verfehlen,
Die Eures Geistes würdig ist.

Marquis. O nein!
Ich bin gewiß, daß der erfahrne Kenner,
In Menschenseelen, seinem Stoff, geübt,
Beim ersten Blicke wird gelesen haben,
Was ich ihm taugen kann. Was nicht. Ich fühle
Mit demuthsvoller Dankbarkeit die Gnade,
Die Eure königliche Majestät
Durch diese stolze Meinung auf mich häufen;
Doch – (Er hält inne.)

König. Ihr bedenket Euch?

Marquis. Ich bin – ich muß
Gestehen, Sire, sogleich nicht vorbereitet,
Was ich als Bürger dieser Welt gedacht,
In Worte Ihres Unterthans zu kleiden. –
Denn damals, Sire, als ich auf immer mit
Der Krone aufgehoben, glaubt' ich mich
Auch der Nothwendigkeit entbunden, ihr
Von diesem Schritte Gründe anzugeben.

König. So schwach sind diese Gründe? Fürchtet Ihr
Dabei zu wagen?

Marquis. Wenn ich Zeit gewinne,
Sie zu erschöpfen, Sire – mein Leben höchstens.
Die Wahrheit aber setz' ich aus, wenn Sie
Mir diese Gunst verweigern. Zwischen Ihrer
Ungnade und Geringschätzung ist mir
Die Wahl gelassen – Muß ich mich entscheiden,
So will ich ein Verbrecher lieber als
Ein Thor vor Ihren Augen gehen.

König (mit erwartender Miene). Nun?

Marquis. – Ich kann nicht Fürstendiener sein.
(Der König sieht ihn mit Erstaunen an.)
Ich will
Den Käufer nicht betrügen, Sire. – Wenn Sie
Mich anzustellen würdigen, so wollen
Sie nur die vorgewogne That. Sie wollen
Nur meinen Arm und meinen Muth im Felde,
Nur meinen Kopf im Rath. Nicht meine Thaten,
Der Beifall, den sie finden an dem Thron,
Soll meiner Thaten Endzweck sein. Mir aber,
Mir hat die Tugend eignen Werth. Das Glück,
Das der Monarch mit meinen Händen pflanzte,
Erschüf' ich selbst, und Freude wäre mir
Und eigne Wahl, was mir nur Pflicht sein sollte.
Und ist das Ihre Meinung? Können Sie
In Ihrer Schöpfung fremde Schöpfer dulden?
Ich aber soll zum Meißel mich erniedern,
Wo ich der Künstler könnte sein? – Ich liebe
Die Menschheit, und in Monarchien darf
Ich niemand lieben als mich selbst.

König. Dies Feuer
Ist lobenswerth. Ihr möchtet Gutes stiften.
Wie Ihr es stiftet, kann dem Patrioten,
Dem Weisen gleich viel heißen. Suchet Euch
Den Posten aus in meinen Königreichen,
Der Euch berechtigt, diesem edeln Triebe
Genug zu thun.

Marquis. Ich finde keinen.

König. Wie?

Marquis. Was Eure Majestät durch meine Hand
Verbreiten – ist das Menschenglück? Ist das
Dasselbe Glück, das meine reine Liebe
Den Menschen gönnt? – Vor diesem Glücke würde
Die Majestät erzittern – Nein! Ein neues
Erschuf der Krone Politik – ein Glück,
Das sie noch reich genug ist auszutheilen,
Und in dem Menschenherzen neue Triebe,
Die sich von diesem Glücke stillen lassen.
In ihren Münzen läßt sie Wahrheit schlagen,
Die Wahrheit, die sie dulden kann. Verworfen
Sind alle Stempel, die nicht diesem gleichen.
Doch, was der Krone frommen kann – ist das
Auch mir genug? Darf meine Bruderliebe
Sich zur Verkürzung meines Bruders borgen?
Weiß ich ihn glücklich – eh' er denken darf?
Mich wählen Sie nicht, Sire, Glückseligkeit,
Die Sie uns prägen, auszustreun. Ich muß
Mich weigern, diese Stempel auszugeben. –
Ich kann nicht Fürstendiener sein.

König (etwas rasch). Ihr seid
Ein Protestant.

Marquis (nach einigem Bedenken). Ihr Glaube Sire, ist auch
Der meinige. (Nach einer Pause.) Ich werde mißverstanden.
Das war es, was ich fürchtete. Sie sehen
Von den Geheimnissen der Majestät
Durch meine Hand den Schleier weggezogen.
Wer sichert Sie, daß mir noch heilig heiße,
Was mich zu schrecken aufgehört? Ich bin
Gefährlich, weil ich über mich gedacht. –
Ich bin es nicht, mein König. Meine Wünsche
Verwesen hier. (Die Hand auf die Brust gelegt.)
Die lächerliche Wuth
Der Neuerung, die nur der Ketten Last,
Die sie nicht ganz zerbrechen kann, vergrößert,
Wird mein Blut nie erhitzen. Das Jahrhundert
Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe
Ein Bürger derer, welche kommen werden.
Kann ein Gemälde Ihre Ruhe trüben? –
Ihr Athem löscht es aus.

König. Bin ich der Erste,
Der Euch von dieser Seite kennt?
Marquis. Von dieser –
Ja!

König (steht auf, macht einige Schritte und bleibt dem Marquis gegenüber stehen. Für sich).
Neu zum wenigsten ist dieser Ton!
Die Schmeichelei erschöpft sich. Nachzuahmen
Erniedrigt einen Mann von Kopf. – Auch einmal
Die Probe von dem Gegentheil. – Warum nicht?
Das Ueberraschende macht Glück. – Wenn Ihr
Es so versteht, gut, so will ich mich
Auf eine neue Kronbedienung richten –
Den starken Geist –

Marquis. Ich höre, Sire, wie klein,
Wie niedrig Sie von Menschenwürde denken,
Selbst in des freien Mannes Sprache nur
Den Kunstgriff eines Schmeichlers sehen, und
Mir däucht, ich weiß, wer Sie dazu berechtigt.
Die Menschen zwangen Sie dazu; die haben Freiwillig ihres Adels sich begeben,
Freiwillig sich auf diese niedre Stufe
Herab gestellt. Erschrocken fliehen sie
Vor dem Gespenste ihrer innern Größe,
Gefallen sich in ihrer Armuth, schmücken
Mit feiger Weisheit ihre Ketten aus,
Und Tugend nennt man, sie mit Anstand tragen.
So überkamen Sie die Welt. So ward
Sie Ihrem großen Vater überliefert.
Wie könnten Sie in dieser traurigen
Verstümmlung – Menschen ehren?

König. Etwas Wahres
Find' ich in diesen Worten.

Marquis. Aber Schade!
Da Sie den Menschen aus des Schöpfers Hand
In Ihrer Hände Werk verwandelten
Und dieser neugegoßnen Kreatur
Zum Gott sich gaben – da versahen Sie's
In etwas nur: Sie blieben selbst noch Mensch –
Mensch aus des Schöpfers Hand. Sie fuhren fort
Als Sterblicher zu leiden, zu begehren;
Sie brauchen Mitgefühl – und einem Gott
Kann man nur opfern – zittern – zu ihm beten!
Bereuenswerther Tausch! Unselige
Verdrehung der Natur! – Da Sie den Menschen
Zu Ihrem Saitenspiel herunterstürzten,
Wer theilt mit Ihnen Harmonie?

König. (Bei Gott,
Er greift in meine Seele!)

Marquis. Aber Ihnen
Bedeutet dieses Opfer nichts. Dafür
Sind Sie auch einzig – Ihre eigne Gattung -
Um diesen Preis sind Sie ein Gott. – Und schrecklich,
Wenn das nicht wäre – wenn für diesen Preis,
Für das zertretne Glück von Millionen,
Sie nichts gewonnen hätten! wenn die Freiheit,
Die Sie vernichteten, das Einz'ge wäre,
Das Ihre Wünsche reifen kann? Ich bitte,
Mich zu entlassen, Sire. Mein Gegenstand
Reißt mich dahin. Mein Herz ist voll – der Reiz
Zu mächtig, vor dem Einzigen zu stehen,
Dem ich es öffnen möchte.

(Der Graf von Lerma tritt herein und spricht einige Worte leise mit dem König. Dieser gibt ihm einen Wink, sich zu entfernen, und bleibt in seiner vorigen Stellung sitzen.)

König (zum Marquis, nachdem Lerma weggegangen). Redet aus!

Marquis (nach einigem Stillschweigen). Ich fühle, Sire, – den ganzen Werth –

König. Vollendet!
Ihr hattet mir noch mehr zu sagen.

Marquis. Sire!
Jüngst kam ich an von Flandern und Brabant. –
So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk – und auch
Ein gutes Volk – und Vater dieses Volkes,
Das, dacht' ich, das muß göttlich sein! – Da stieß
Ich auf verbrannte menschliche Gebeine –

(Hier schweigt er still; seine Augen ruhen auf dem König, der es versucht, diesen Blick zu erwidern, aber betroffen und verwirrt zur Erde sieht.)

Sie haben Recht. Sie müssen. Daß Sie können,
Was Sie zu müssen eingesehen, hat mich
Mit schaudernder Bewunderung durchdrungen.
O Schade, daß, in seinem Blut gewälzt,
Das Opfer wenig dazu taugt, dem Geist
Des Opferers ein Loblied anzustimmen!
Daß Menschen nur – nicht Wesen höhrer Art –
Die Weltgeschichte schreiben! – Sanftere
Jahrhunderte verdrängen Philipps Zeiten;
Die bringen mildre Weisheit; Bürgerglück
Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln,
Der karge Staat mit seinen Kindern geizen, Und die Nothwendigkeit wird menschlich sein.

König. Wann, denkt Ihr, würden diese menschlichen
Jahrhunderte erscheinen, hätt' ich vor
Dem Fluch des jetzigen gezittert? Sehet
In meinem Spanien Euch um. Hier blüht
Des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden;
Und diese Ruhe gönn' ich den Flamändern.

Marquis (schnell). Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen,
Zu endigen, was Sie begannen? hoffen, Der Christenheit gezeitigte Verwandlung,
Den allgemeinen Frühling aufzuhalten,
Der die Gestalt der Welt verjüngt? Sie wollen –
Allein in ganz Europa – sich dem Rade
Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam
In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen?
Mit Menscharm in seine Speichen fallen?
Sie werden nicht! Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger,
Den Sie verloren für den Glauben, war
Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und fruchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien. Verlassen von dem Fleiß
Der neuen Christen, liegt Granada öde,
Und jauchzend sieht Europa seinen Feind
An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten.

(Der König ist bewegt; der Marquis bemerkt es und tritt einige Schritte zurück.)

Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit,
Und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk
Wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern.
Dem Undank haben Sie gebaut – umsonst
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umsonst ein großes königliches Leben
Zerstörenden Entwürfen hingeopfert.
Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.
Des langen Schlummers Bande wird er brechen
Und wiederfordern sein geheiligt Recht.
Zu einem Nero und Busiris wirft
Er Ihren Namen, und – das schmerzt mich; denn
Sie waren gut.

König. Wer hat Euch dessen so
Gewiß gemacht?

Marquis (mit Feuer). Ja, beim Allmächtigen!
Ja – ja – ich wiederhol' es. Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie
Großmüthig, wie der Starke, Menschenglück
Aus Ihrem Füllhorn strömen – Geister reifen
In Ihrem Weltgebäude! Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder. Werden Sie
Von Millionen Königen ein König.

(Er nähert sich ihm kühn, und indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet.)

O, könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Theilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,
Den Strahl, den ich in diesen Augen merke,
Zur Flamme zu erheben! Geben Sie
Die unnatürliche Vergöttrung auf,
Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster
Des Ewigen und Wahren! Niemals – niemals
Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich
Es zu gebrauchen. Alle Könige
Europens huldigen dem spanischen Namen.
Gehn Sie Europens Königen voran.
Ein Federzug von dieser Hand, und neu
Erschaffen wird die Erde. Geben Sie
Gedankenfreiheit. – (Sich ihm zu Füßen werfend.)

König (überrascht, das Gesicht weggewandt und dann wieder au den Marquis geheftet).

Sonderbarer Schwärmer!

5. Aufgabe: Welche Staatsideen werden hier gegenübergestellt? Lösungsvorschlag von Friedel Schardt

Philipp vertritt die Idee der absoluten Staatsautorität, verkörpert im absoluten Monarchen, der als Repräsentant des Staates nur Gott gegenüber verantwortlich ist und in seinem Herrschertum ein Abbild der göttlichen Allmacht darstellt. Als gottgleicher Herrscher muss er auf alle menschlichen Regungen verzichten, will er dem Anspruch seines Amtes gerecht werden. Ein wesentliches Argument für sein Konzept stellt für ihn die Wirklichkeit selbst dar: In seinem Staat können die Bürger friedlich und ohne Gefährdung leben. Posa fordert demgegenüber die Idee der Völkerfreiheit als Grundprinzip des Staates, dem alles unterzuordnen ist. Ein König hat in einem solchen Staat die Funktion des "Königs unter Königen", er repräsentiert und garantiert die Freiheit der Staatsbürger. Nach Posas Konzept ist der Mensch frei. Entsprechend fordert er Gedankenfreiheit. Der Bürger in einem solchen Staat soll sich ungehindert entfalten und den Staat verantwortlich mittragen können. Philipp und Posa sind sich in der Struktur ihres Handelns wie ihrer Einstellung sehr ähnlich. Beide stehen für ein Staatskonzept, das den totalen Einsatz fordert, beide sehen von konkreter Menschlichkeit ab, beide sind bereit, ihre Idee auf Kosten humanen Verhaltens durchzusetzen.

Bei so einer Prüfungsaufgabe reicht eine reine Beschreibung dessen, was die beiden Figuren sagen, nicht aus. Da ist mehr verlangt. Erstens, dass man die Ideen, die hinter den Aussagen der Figuren stehen, offen legt, zweitens, dass man das "Weltkonzept des Autors" (Friedel Schardt) heranzieht und möglichst auch die Zeit, in der das Stück geschrieben wurde. "In unserem Fall ergibt sich daraus: Der absolute Herrscher auf der einen Seite sieht sich konfrontiert mit den Gedanken der Aufklärung, und es kristallisiert sich bei Schiller so etwas wie der Anspruch eines aufgeklärten Absolutismus heraus", so Friedel Schardt.

Quellen:

  • Kindlers Literaturlexikon (umfangreiches Literaturlexikon zur Weltliteratur in mehreren Bänden, z.B. bei J. B. Metzler Verlag mit Online Datenbank)

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