Nachgefragt Rhetorik - die Kunst der Rede
Was hielt wer im Laufe der Geschichte von der Rhetorik? Verschiedene Stationen geben Einblick in die Entwicklung der Redekunst bis heute.
Wegen ihrer unwiderstehlichen Wirkungsmacht pries und schätzte Gorgias von Leontinoi, der berühmte Sophist im 5. Jahrhundert v. Chr. und erste große Rhetoriklehrer Athens, die kunstvolle Rede. Wie die Dichtung, die für Gorgias nur eine spezielle Art der Rede war, nämlich die "Rede, die ein Versmaß hat", kann die kunstvolle Rede ihre Zuhörer von Grund auf und zu allem bewegen. D.h. sie kann sie auch in die Irre führen:
"Rede ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren."
(Gorgias von Leontinoi. Lobpreis der Helena. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, Fragment 11; S.9)
"Wieviele bekehrten und bekehren noch wieviele andere zu wievielem, indem sie eine irreführende Rede bildeten."
(ebd. S.9)
"Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution: Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die anderen Genuß, und die dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung."
(ebd. S.11)
Platon (427-347 v. Chr.)
Wegen ihrer verführerischen Macht bekämpfte und kritisierte Platon im Namen der übersinnlichen immerwährenden Wahrheit Rhetorik (wie Dichtung) aufs Schärfste: In seinem Kampf gegen die Sophisten sprach er der Rhetorik jeglichen Anspruch auf Recht, Wahrheit und Kunst (gr. techne) ab und definierte sie als eine bloße Schmeichelei und entmündigende "Seelenführung", – heute würde man sagen, als gewissenlose Manipulation: Ist nicht insgesamt die Redekunst eine Art Seelenführung durch Reden, nicht nur bei Gerichtsverhandlungen und anderen öffentlichen Zusammenkünften, sondern auch im Privatbereich, und zwar ebenso im Kleinen wie im Großen....? (Platon Phaidros 261a)
"Es gibt ein gewisses, keineswegs künstlerisches Bestreben einer dreisten Seele, die richtig zu treffen weiß und schon von Natur aus stark ist in Behandlung der Menschen; im ganzen nenne ich es Schmeichelei. ... Von derselben nun betrachte ich als einen Teil auch die Redekunst."
(Platon Gorgias 463a-b)
Übung und Fertigkeit, nicht aber Kunst (gr. techne: begründetes, verstehendes Umgehen mit den Dingen) zeichnen für Platon die schmeichelnden Scheinkünste Rhetorik, Kochkunst, Kosmetik und Sophistik aus. Weil die Rhetorik nichts von Gerechtigkeit versteht, aber stets so tut und damit die Menschen irreführt, ist sie für Platon ein verhängnisvolles, trügerisches "Schattenbild der Gerechtigkeit" (ebd. 465c).
Die Väter der Klassischen Rhetorik: Aristoteles, Cicero und Quintilian
Wegen ihrer Universalität, dem Vermögen überall im Bereich der menschlichen Praxis, wo es keine sicheren ewigen Wahr- und Gewissheiten geben kann, jeweils das Glaubwürdigste und Überzeugendste ausfindig und stark zu machen, pries und gründete Aristoteles (384-322 v. Chr) die Rhetorik. Die Rhetorik verhilft der Politik dazu, ein möglichst gutes Leben für alle zu realisieren:
"Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Plausible zu erkennen."
Aristoteles Rhetorik, Buch 1, Kap 2.1 1355b
Zog Aristoteles noch eine klare Grenze zwischen Wissenschaft, theoretischer und praktischer Philosophie und Rhetorik, so gerieten im Römischen Reich schließlich alle Bildungsgüter unter die Ägide einer immer ausgefeilteren Rhetorik. Diese zog sich indes umso mehr aus der Öffentlichkeit in die oft staatlich gewährten Schutzräume der Rhetorikschulen zurück, als das eigentliche Feld der Redner – die demokratische Öffentlichkeit – zerstört wurde, die Republik durch Diktatur abgelöst wurde.
Die maßgeblichen Werke, auf die sich die zahlreichen römischen Rhetorikschulen stützten, gelten noch heute als Standardwerke der Rhetorik. Sie stammen von dem großen römischen Redner Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.) und von M. Fabius Quintilianus: Quintilian (ca 35 - 96 n. Chr.).
Cicero (De oratore, Orator, Brutus) und Quintilian (Institutio oratoria) machten auf der Grundlage der Griechen aus der Rhetorik ein umfassendes Lehrgebäude, das alle Bereiche des menschlichen Daseins umfasste: Erziehung, Politik, Recht, Gesellschaftstheorie und Ethik. Ciceros Ideal war der "perfectus orator", der die Redekunst auf der Grundlage einer umfassenden Allgemeinbildung mit hohem moralischen Verantwortungsbewusstsein ausübt und ein "vir bonus", ein guter Mensch war.
Quintilians umfangreiches Lehrbuch "Die Ausbildung des Redners", machte aus der Rhetorik die Königin aller Künste und Wissenschaften. Durch die enormen Ansprüche an den Redner – seine universelle Bildung und hohe Moral – schien die von Platon bekämpfte Gefahr der Verführung aus der Rhetorik gebannt.
Je mehr die Rhetorik ihre ursprünglichen Bedeutung, eine demokratische Öffentlichkeit zu gewährleisten, verlor, desto universeller wurde ihr akademischer Anspruch als Kunst, alles 'wesentliche' Wissen erfolgreich an den Mann zu bringen.
Mittelalter
Das christliche Mittelalter machte nach anfänglichem Zögern die Theorie und Praxis der wirkungsvollen Rede für die Bibelauslegung und Predigtlehre, die Homiletik, fruchtbar: Es entstand die vierte Redegattung, die Predigt, die in Duktus und bekehrender Absicht am ehesten an die Fest- bzw. Prunkrede anschließt. Als eine der sieben Freien Künste kam der Rhetorik neben Grammatik und Dialektik grundlegende Bedeutung zu.
Aufklärung und Genieästhetik
Die praktische Beredsamkeit überlebte in Deutschland bis zur Zeit der Aufklärung fast nur in Form der Predigt. Anders als in England, wo sich im Zuge des Parlamentarismus eine demokratische Debattenkultur etabliert hatte, galt hier, was Christoph Martin Wieland konstatiert:
Die christliche Religion hat zu einer neuen Art Beredsamkeit Anlaß gegeben, welche die geistliche Beredsamkeit ... genennt wird. Die großen Veränderungen, die seit der Zerstörung der alten Republiken in Europa vorgegangen, haben der Beredsamkeit fast keinen anderen Ort übrig gelassen, wo sie sich in ihrer ganzen Stärke deployieren kann, als die Canzel." (Theorie und Geschichte der Red-Kunst S.331. Zitiert nach Ueding Moderne S.38.)
Theorie und Praxis der klassischen Rhetorik verloren in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung: Die bei Aufklärern wie Lessing, Gottsched und Voltaire noch gegebene klassische "Personalunion von Dichter und Lehrer der Beredsamkeit" (Ueding S.47) zerbrach. Und mit ihr zerbrach die emanzipative Vorstellung, dass die Kunst der wirkungsvollen Rede wie der wirkungsvollen Dichtung auf bestimmten, erlernbaren Regeln beruht. Es bildete sich eine Genieästhetik heraus, die alles rhetorische Regelwerk und alle Stilistik als künstliches Korsett und bloßen äußerlichen Schmuck verabschiedete. Nach dem Vorbild Jean-Jacques Rousseaus (1712 - 1778), dieses Magiers der Rede, setzte man von nun an auf das Naturtalent, das allein durch den "Brustton der Überzeugung" wirkte. Auf Wagners Frage, wie man denn die Welt durch Überredung leiten solle, lässt Goethe seinen Faust antworten:
FAUST: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,
Braut ein Ragout von andrer Schmaus
Und blast die kümmerlichen Flammen
Aus eurem Aschenhäuschen 'raus!
Bewundrung von Kindern und Affen,
Wenn euch darnach der Gaumen steht-
Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.
(Johann Wolfgag Goethe. Faust Teil I. Nacht. V.533-545)
Das Zerrbild der Rhetorik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fristete die rhetorische Theorie "ein kümmerliches Dasein in Schwundstufen wie der Sprecherziehung" (Ueding Moderne S.84). Eine Ausnahme bildet Nietzsche, der die Missachtung der Redekunst in seinen Rhetorikvorlesungen kritisiert und analysiert. Angesichts der Rhetorik konstatiert er:
In neuerer Zeit steht diese Kunst in einiger Nichtachtung, und wenn sie gebraucht wird, ist auch die beste Anwendung unserer Modernen nichts als Dilettanterei und rohe Empirie. ... Sodann ist es eine wesentlich republikanische Kunst: man muss gewohnt sein, die fremdesten Meinungen und Ansichten zu ertragen und sogar ein gewisses Vergnügen an ihrem Widerspiel empfinden: man muss ebenso gerne zuhören als selbst sprechen, man muss als Zuhörer ungefähr die aufgewandte Kunst würdigen können. Die Bildung des antiken Menschen kulminiert gewöhnlich in der Rhetorik: es ist die höchste geistige Bethätigung des gebildeten politischen Menschen – ein für uns befremdlicher Gedanke! (Friedrich Nietzsche Rhetorik. Vorlesung Sommer 1874 § 1)
Als rhetorische Praxis im Zuge der politischen Umwälzungen zur Zeit der Jahrhundertwende dann plötzlich wieder angesagt war, ereignete sich nach Ueding, was die Psychologen die "Wiederkehr des Verdrängten" nennen: ein heftiges Hervorbrechen der lang vernachlässigten und verdrängten Redekunst in verzerrter Form.
Gesucht, beschworen und bei Bismarck gefunden wurde – etwa von Friedrich Naumann – ein spezifisch "deutscher Stil", der sich durch "Sachlichkeit", "Einfachheit" und "Natürlichkeit" auszeichnen sollte, aber nicht selten im Predigtstil mündete (vgl. Ueding Moderne S.85). Eine "deutsche Rhetorik", sollte die "alte Rhetorik" ersetzen. Das lebendige Sprechen, Lautgebärde und Selbstoffenbarung sollten im Mittelpunkt des Vortrags stehen, der abzielte auf eine nachhaltige Beherrschung der Hörer: Ewald Geißler (1880-1946), Sprachwissenschaftler in Halle, brachte dies auf den Punkt :
Das Endziel aber, dem der Redner über alle Widerstände hinweg zudrängt, ist, daß die Hörer so werden, wie er sie haben will. So denken, so fühlen, so wollen, so handeln. Alles Reden strebt zum Überreden. Das Überreden aber ist um so vollständiger, je weniger es durch spätere Einwirkungen wieder aufgehoben werden kann, je tiefer es in jenen Kern der Seele greift, der das Dauernde bleibt im Wechsel. (Geißler, Rhetorik II, S.18. Zitiert nach Ueding Moderne S.87)
"Das ist beinahe der Gegensatz zu dem rhetorischen Ethos, das Aristoteles und Cicero formuliert hatten", kommentiert Ueding (ebd.). Nicht um prinzipiell Gleiche zu beraten und zu überzeugen, sondern um die überwältigende Überredung einer unreifen Masse ging es jetzt, nicht um Glaubwürdigkeit des Redners, sondern um den "Zauber der Einzelpersönlichkeit mit ihren unwägbaren Kräfteausstrahlungen" (Geißler ebd. S.25).
Was sich in dieser "deutschen Rhetorik" vorbereitete, war die Umwandlung der Rede zur totalen Manipulation der Massen, die Goebbels und Hitler mithilfe der Massenmedien, insbesondere des Radios, zur "Vollendung" brachten.
Die Rede Adolf Hitlers war niemals politische Beratungsrede im klassischen, auch im klassischen parlamentarischen Verständnis; ihre einzige Aufgabe bestand darin, das eigene politische Glaubensbekenntnis, die Idolatrie der eigenen Führerpersönlichkeit wieder und wieder massen- und medienwirksam zu inszenieren, also ein Medienspektakel aufzuführen, das die vornehmlich emotionalen, ästhetischen Bedürfnisse eines Massenpublikums befriedigte. (Ueding Moderne S.96)
Rhetorik nach dem Zweiten Weltkrieg
Wiewohl Goebbels und Hitlers Rhetorik sehr viel mehr gemeinsam hatten mit der Predigt als mit den klassischen Redegattungen, führten die verheerenden Erfahrungen mit den Demagogen der Nazizeit im Nachkriegsdeutschland zu einer generellen Ablehnung der Rhetorik in Theorie und politischer Praxis. Alle Überzeugungsarbeit und -kunst stand unter Verdacht, genauso wie in der Dichtung alles Pathos. Statt in den Schulen die klassische Rhetorik und ihre (missbrauchbaren) Techniken durchschauen und anwenden zu lehren oder Debattierclubs nach englischem Vorbild zu gründen, wurde Innerlichkeit gepflegt und der Besinnungsaufsatz geübt. Dasselbe Klima machte sich in den Hochschulen breit: "Die akademischen Geisteswissenschaften verschrieben sich der unpolitischen und unrhetorischen Hermeneutik" (ebd. S.98).
So kam es zu einer mangelhaften rhetorischen Versorgung der hiesigen Bevölkerung, die noch heute im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. Dieses Versäumnis an einer schulischen rhetorischen Grundversorgung fällt heute besonders ins Gewicht, weil zugleich die Massenmedien den Bedarf an Rhetorik drastisch erhöht haben.
Mediale Anforderungen stehen hinter Kongressen und Expertenhearings, politischen Debatten, Parlamentsanfragen und Presse-Statements. Die journalistischen Präsenzzeiten auf der Pressebühne bestimmen die Rednerfolge. Kein Wunder, daß es da manchem Bildungspolitiker angst wird, denn der rhetorischen Perfektion der politischen (und übrigens auch zunehmend der wirtschaftlichen) Selbstdarstellung entspricht nach wie vor kein rhetorisches Wissen in der Bevölkerung. Denn allein "Rhetorik lehrt Rhetorik zu erkennen" (Blumenberg) – doch mit der Präsenz der Rhetorik in den Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen ist es immer noch schlecht bestellt. (ebd. S.120)
Hieraus erklärt sich auch das Interesse an Rhetorikschulungen in Management Bereich. Doch mit klassischer Rhetorik haben sie weniger zu tun, sie sind meist Verkäuferschulungen und lehren t mit kleinen einprägsamen Checklisten Techniken, Kniffe und Tricks der wirkungsvollen Rede und Präsentation. Für die klassischen und wissenschaftlichen Rhetoriker ist es allerdings eine fragwürdige Instrumentalisierung der Rhetorik zur reinen Manipulations- und Selbstverkaufstechnik. Für vieleTeilnehmer handelt es sich wohl eher um den Versuch, schneller und effektiver als durch ein systematisches Rhetorikstudium, die nötigen Argumentations- und Präsentationstechniken zu lernen, die sie heute in allen Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik dringend benötigen.