Fakten Rezension und Kritik
Der "klassische Typus" der Literaturkritik ist die Rezension. Wie wird sie aufgebaut und welche Aspekte dürfen nicht fehlen? In jedem Fall erleichtert eine gute Vorbereitung das Schreiben.
Der "klassische Typus" der Literaturkritik ist die Rezension, wie Thomas Anz in dem Standardwerk "Kulturjournalismus" schreibt. Also versuchen Sie doch einmal selbst eine zu schreiben. Wir orientieren uns bei unseren Tipps weitgehend an seinen Ratschlägen aus diesem Werk:
1. Vorbereitung
• Suchen Sie sich ein Buch aus, dass Sie anspricht: Entweder durch das gut gemachte Cover, oder den Klappentext, der Sie neugierig macht, oder weil Sie bereits etwas von dem Autor gehört oder besser noch gelesen haben.
• Lesen Sie das Buch gründlich und durch: von vorn bis hinten. Zuweilen hat man zwar bei Rezensionen den Eindruck, dass das versäumt wurde, aber gerade Anfänger können sich solche Nachlässigkeiten nicht leisten.
• Machen Sie sich beim Lesen bereits kurze Notizen. Halten Sie Stellen (mit Seitenangabe, damit Sie sie wiederfinden) fest, wo besonders feine oder auch besonders verunglückte Formulierungen sind, wo Sie den Kern der Handlung oder ihrer Deutung durch den Autor vermuten, wo sich besonders der Stil oder der Ton des Werkes zeigt, wo Sie Unstimmigkeiten finden. Kurz, wo Ihnen etwas auffällt das bedeutend, bezeichnend oder symptomatisch für das Werk erscheint.
• Wenn Sie etwas in dem Buch nicht verstehen oder der Zusammenhang der ganzen Geschichte Ihnen nicht klar ist, versuchen Sie, sich das nötige Verständnis anzueignen. Z.B., indem Sie sich Informationen über den Autor, seine sonstigen Werke, seinen Werdegang, seine Vorbilder, seine sonstige Tätigkeit und Lebenssituation beschaffen. Wenn er noch unbekannt ist, beim Verlag, sonst in Lexika, (Fach-)Zeitschriften oder im Internet.. Oder indem Sie sich im Geschichtsbuch oder in anderen Lexika einen Einblick in die geschichtlichen, politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhänge der Geschichte verschaffen.
• Wenn Sie nicht zu einem ausreichenden Verständnis des Werkes gelangen, fragen Sie sich selbstkritisch, ob das an Ihnen (an mangelnder Lebens- und Leseerfahrung) oder in erster Linie an dem Buch liegt. Ist Letzteres der Fall, können Sie einen Verriss wagen, aber nur, wenn Sie genau zu formulieren wissen, was hier de facto unstimmig, unverständlich und kraus ist. Wenn Sie sich das nicht zutrauen, suchen Sie sich besser ein anderes Buch aus.
• Überlegen Sie sich, was Sie am meisten in dem Buch anspricht, was Ihnen das Bedeutendste scheint und suchen Sie Gründe dafür. Es kann die Art sein, wie der Autor an das Thema herangeht. Das setzt bei Ihnen eigene reflektierte (Lebens-)Erfahrung mit dem Thema voraus (und/oder eine gewisse Vertrautheit mit der Behandlung des Themas durch andere Autoren. Es kann aber auch die eindringliche Lebendigkeit seiner Figuren sein., Oder es kann der besondere Sprachduktus sein, lange Sätze etwa, die Sie packen, hin- und fortreißen bis zum Ende des Romans.
• Wenn Sie nichts anspricht, versuchen Sie, sich genau klar zu machen, woran das liegt, was konkret sie so langweilt. Spielt der Autor mit längst verbrauchten Klischees, oder überlädt er sein Werk mit zu vielen Symbolen, autopoetischen Reflexionen oder Metaphern? Ist alles zu abstrakt, zu wenig anschaulich, sind die Figuren, , zu konstruiert, zu platt, zu gesichtslos? Ist das Thema in dieser Form schon zigmal erschöpfend und weit besser behandelt worden? Herrscht hier Schwarzweißmalerei vor? Ist der Autor zu sehr von Ideen und Vorurteilen geleitet, statt von einer Geschichte, die er erzählen will? Suchen Sie Ihr Unbehagen an bezeichnenden Stellen des Werks festzumachen!
• Wenn Sie sich das alles klar gemacht haben, reden Sie einmal mit anderen über das Werk oder den Autor, oder informieren Sie sich, wie er bzw. sein Werk bislang in der Öffentlichkeit angekommen i wurde. Lesen Sie, wenn Sie es aus Verständnisgründen noch nicht vorher getan haben, die eine oder andere Rezension über ihn oder seine früheren Werke in einer überregionalen Zeitung. Dieser Dialog mit anderen Urteilen hilft Ihnen, ihr eigenes Urteil noch einmal zu überdenken, gegebenenfalls zu korrigieren oder aber zu festigen.
• Überlegen Sie sich, für welches Publikum Sie schreiben. Für eine Schüler-, eine Stadtteil- oder eine überregionale Zeitung? Schauen Sie sich ruhig einmal den dort herrschenden Stil und das Niveau an, damit Sie nicht ganz danebentappen. Richten Sie sich etwas danach, was für dieses spezielle Publikum von Interesse sein könnte; denn dann können Sie Ihrem Publikum einen ansprechenden Einstieg in die Rezension bieten.
• Ordnen Sie Ihre Gedanken und Notizen, finden sie einen Ton (eher Verriss, ironische Distanz oder blanke Zustimmung?) und strukturieren Sie, was sie sagen wollen.
• Begrenzen Sie den gesammelten Stoff gemäß der begrenzten Zeilen oder Anschläge, die Sie zur Verfügung haben. Da bleibt Ihnen dann meist nichts anderes übrig, als sich auf das Wesentliche zu beschränken. Und das ist gut so.
2. Schreiben
An welcher Stelle ihrer Rezension Sie was sagen, ist vollkommen Ihnen überlassen: Ob sie als Einstieg ein bezeichnendes Zitat oder Ihren höchstpersönlichen Eindruck beim Lesen, die Bestimmung des Themas oder allgemeine Reflexionen über die Gegenwartsliteratur wählen. Sagen sollten Sie im Laufe des Textes aber auf jeden Fall etwas
• über den Inhalt des Buches. Vermeiden Sie unbedingt detaillierte Angaben und Nacherzählungen komplexer Handlungsstränge. Selbst die Namen der Figuren sind oft überflüssig. Konzentrieren Sie sich auf einige wichtige Aspekte und versuchen Sie den Lesern durch exemplarische Stellen einen Gesamteindruck zu verschaffen.
• über die Konstruktion, die Sprache und den Stil des Werks. Geben sie mit prägnanten Zitaten Kostproben, die Ihre Charakterisierungen des Stils veranschaulichen und belegen.
• über die Bedeutung des Buches. Interpretieren Sie, was es sagen will oder für welche Haltung, welche Anschauung es symptomatisch ist. Ordnen Sie es in einen größeren Zusammenhang ein. Flechten Sie Ihre Interpretationsvorschläge in Ihre Beschreibungen des Inhalts oder die Charakterisierung der Sprache ein. So können Sie sie gleich begründen und für die Leser verständlicher und nachvollziehbarer machen.
• über den Autor. Das ist vor allem dann nötig, wenn er weitgehend oder vermutlich Ihrem Publikum unbekannt ist. In einer großen Zeitung sind genauere Angaben über bekannte Autoren wie z.B. Martin Walser oder Peter Handke überflüssig, es sei denn die Hinweise zu den bisherigen Werken, Erfolgen oder Misserfolgen werden in die Beurteilung des neuen Werks konstitutiv eingebunden.
• zur Wertung, denn die "gehört zur literaturkritischen Rezension" (Kulturjournalismus S.55). "Wertungen, gerade auch negative, sind nämlich, so apodiktisch sie auch formuliert sein mögen, immer nur Angebote, über deren Überzeugungskraft der Leser der Rezension selbst zu urteilen hat, die zum Widerspruch auffordern, sich der Konkurrenz literaturkritischer Meinungsvielfalt stellen und zur Diskussion anregen" (ebd.). Gewöhnlich wird eine Wertung durch formale oder inhaltliche Merkmale des Werkes begründet oder/und durch eine Wirkung des Werkes auf die Leser bzw. zunächst einmal auf sich selbst.
Sagen können Sie etwas
• zu möglichen Vergleichen des Werks mit denen anderer Autoren. Welche literarischen Vorbilder und Gegner es hat, wie es an welche literarische Tradition anknüpft, ob es im Trend ist, oder ob es alle Moden und Konventionen hinter sich lässt. Solche Vergleiche und Einschätzungen haben aber nur Hand und Fuß, wenn Sie sich wirklich gut auskennen, sonst verführen sie leicht zur peinlichen Demonstration der eigenen Belesenheit.
Literatur:
Dieter Heß (Hrsg.): Kulturjournalismus, ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, 2. aktualisierte Aufl., 1997