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Nachgefragt Rezension und Kritik

Die Literaturkritik gibt einen Überblick über Neuerscheinungen und aktuelle Entwicklungen. Der Leser erhält notwendige Informationen und Entscheidungshilfen zum Kauf eines Buches. Doch was macht eine gute Kritik aus und wie unterscheidet sie sich zur Literaturwissenschaft?

Stand: 26.09.2012 | Archiv

Finalisten Deutscher Buchpreis stehen auf einen Tisch | Bild: picture-alliance/dpa

1. Begriff

Literaturkritik bezeichnet im Deutschen "die informierende, interpretierende und wertende Auseinandersetzung vor allem mit neu erschienener Literatur in den Massenmedien." (Thomas Anz in: Kulturjournalismus S.50)

Anders verhält es sich im romanischen und angloamerikanischen Sprachraum: critique litteraire und literary criticism wird dort oft gleichgesetzt mit Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (vgl. Sachwörterbuch der Literatur S.415).

2. Funktionen Literaturkritik

1. verschafft Orientierung über Neuerscheinungen, über Schriftsteller, aktuelle Entwicklungen im Verlags- und Literaturbetrieb, über Trends, Editionsprojekte und Literaturzeitschriften

2. gibt den potenziellen Lesern durch Information, Interpretation und Bewertung Entscheidungshilfen zum Kauf des Buches

3. vermittelt dem Publikum ein Basiswissen, das insbesondere bei schwierigen Texten das Verständnis erleichtert

4. beurteilt die Qualität des erschienenen Werkes hinsichtlich der Fragen, wie sorgfältig es insgesamt gemacht, geschrieben, herausgegeben, redigiert oder übersetzt ist und setzt somit die Standards künftiger Produktionen

5. fördert den Dialog und die Reflexion über Literatur in der Öffentlichkeit. (vgl. Anz in Kulturjournalismus S.52f.)

Marcel Reich-Ranicki bringt diese Anforderungen aus der Sicht der Kritiker und Literaturredakteure auf den Punkt: "Zwei Ziele schweben ihnen vor: bessere Bücher und bessere Leser." (Reich-Ranicki 1995 S.129)

3. Geschichte

Die moderne Literaturkritik entstand als journalistische Darstellungsform erst im 18. Jahrhundert, als sich allerorts ein Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt etablierte. Sie wurde um so nötiger, je größer und unüberschaubarer der Buchmarkt wurde, und je mehr Leute lesen lernten.

Die Literaturkritik hat als journalistische Darstellungsform ihre Wurzeln aber in der literarischen Kritik, einer Disziplin, die allerdings mehr umfasst: Jegliche orientierungsstiftende Beurteilung von Literatur, befinde die sich in eigenen Dichtungen oder Büchern oder auch in eigens eingerichteten Rezensionsforen.

Kritik kommt vom griechischen Wort kritike und bedeutet die Kunst der Beurteilung. In diesem Sinn definiert das Sachwörterbuch der Literatur (S.413):

Literarische Kritik als Beurteilung von Dichtungen im Gegensatz zur referierenden Literaturwissenschaft und regelsetzenden Poetik verfolgt praktische Zwecke einer Vermittlerstellung zwischen Dichtung und Publikum: Aufdeckung der Werte und Schwächen eines Werkes und Analyse seiner Wirkungsursachen. Sie fördert die Verbreitung und Wirksamkeit eines Werkes, indem sie den Boden für angemessene Aufnahme der Werte vorbereitet, und dient dem Publikum, indem sie auf solche Werte verweist und durch Empfehlung oder Ablehnung zu eigener Stellungnahme und kritischer Durchdringung anregt.

Die literarische Kritik in diesem weiten, noch nicht institutionalisiertem Sinn begann in Deutschland im Mittelalter bei Gottfried von Strassburg und Rudolf von Ems. Ersterer flocht in seine Tristan-Dichtung, Letzterer in sein Alexanderlied kritische Stellungnahmen und Charakterisierungen anderer Dichter ein (vgl. Sachwörterbuch der Literatur S.414). In der Aufklärung gewann die literarische Kritik unter Gottsched und Boileaus regelrecht Macht über das literarische Leben und die literarischen Produktionen. Von seinen rationalistischen Wertmaßstäben der Deutlichkeit und Wahrscheinlichkeit geleitet, wollte Gottsched mit aller Literatur aufräumen, die diesen fixen Maßstäben nicht standhielt.

Das konnte nicht widerspruchslos hingenommen werden, und so etablierten sich seit Bodmer und Breitinger stets neue Maßstäbe der Kritik und schließlich auch ein positiveres Verständnis des kritischen Geschäfts selbst: Die Kritik sollte nicht mehr nur eine bereinigende, aufräumende Funktion haben, sondern eine aufbauende, eine fördernde, sie sollte den Literaturbetrieb befruchten. Zahlreiche literaturkritische Zeitungen entstanden, in denen die großen Geister der Zeit ihre z.T. heftigen Auseinandersetzungen über die Literatur pflegten und die allgemeine Geschmacksbildung wie die Literaturproduktion zu beeinflussen suchten: Nicolais Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste 1759ff, die Allgemeine Deutsche Bibliothek 1768ff und Wielands Teutscher Merkur etc. Die Stürmer und Dränger, allen voran J.H. Merck, erfanden ihre eigene Form von literarischer Kritik: Sie wehrten sich gegen die analysierende Kritik, indem sie ihre Kritik an diesem reglementierenden Literaturbetrieb als Farcen (am berühmtesten wohl Goethes Götter, Helden und Wieland), in Satiren und in ihren Dramen publik machten (vgl. Sachwörterbuch der Literatur S.414).

Die Kritik als Institution wird in Deutschland bekämpft, seit es sie gibt. Im November 1936 verbot Goebbels die Literatur- und Kunstkritik generell und ersetzte sie durch die so genannte Kunst-"Betrachtung". Sein Vorwand war, "das schöpferische Genie vor den Zersetzungen der Kritik zu schützen" (Kulturjournalismus S.57). Auf viel Widerstand bei der breiten Bevölkerung stieß der Propagandaminister durch das Verbot nicht.

4. Literaturkritik versus Literaturwissenschaft

Im Unterschied zur Literaturwissenschaft wendet sich die moderne Literaturkritik an einen breiten Kreis von sehr unterschiedlichen Adressaten, an ein Massenpublikum eben. Daraus resultieren ganz andere Erfordernisse an die Arbeit des Literaturkritikers: Er muss sich zwar auch gut in der literarischen Landschaft auskennen, aber er muss eine andere Form der Vermittlung seines Wissens und Urteils beherrschen.

Entscheidend ist für den Literaturkritiker (siehe Anz in Kulturjournalismus S.50f):

• Konzentration auf das Wesentliche; er kann nicht wie der Wissenschaftler lang ausholen und alles mit Details begründen

• Vermeidung oder mindestens Erklärung fachwissenschaftlicher Begriffe

• Mut zur Lücke und gelegentlich auch zur popularisierenden Vereinfachung

• Verzicht auf differenzierende Details (des Werkes sowie auf Quellenangaben, vollständige Begründung der Thesen durch den Text, explizite Abhebung von anderen Interpretationen ...), auf die der Wissenschaftler, der überprüfbar arbeiten sollte, nicht verzichten darf

• Nutzung des individuellen Spielraums bei der Interpretation und Wertung, was der Wissenschaftler, der sich mindestens auf die Standardliteratur beziehen und nur begründet davon abweichen sollte, nicht kann

• ein gutes Gespür dafür, was sein Publikum interessiert und wie es auf was reagiert

• gut schreiben zu können, d.h. lebendig, anschaulich, witzig, engagiert und u.U. ein wenig provokativ, was alles beim Wissenschaftler nicht so wichtig ist wie das Analysieren und Denken.

5. Spielarten der Literaturkritik

Die Rezension ist die üblichste Form, aber die Literaturkritik kennt durchaus noch weitere Spielarten (vgl. Anz in Kulturjournalismus S.51):

• das Autorenporträt

• das Interview

• die Diskussion

• das Feature

• den Essay

• die Reportage

In all diesen Formen sollten die Kritiker ihre individuellen Spielräume bei Gewichtung (was kann ich weglassen, was soll ich wo platzieren und betonen) Interpretation und Wertung nutzen.

Literatur:

  • Dieter Heß (Hg.). Kulturjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. München, 2. aktualisierte Aufl., 1997
  • Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1969 (5. Aufl.), Stuttgart 1989 (7. Aufl.)
  • Marcel Reich-Ranicki. Wer schreibt, provoziert. Kommentare und Pamphlete. Informationen und Materialien zur Literatur. Frankfurt a.M. 1993
  • Marcel Reich-Ranicki. Nichts als Literatur. Aufsätze und Anmerkungen. Stuttgart 1995

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