Toleranz lernen Wie kommen wir besser miteinander zurecht?

Von: Constanze Álvarez

Stand: 17.12.2024

Laute Musik, telefonieren im Zug, Kindergeschrei - was für manche eine Zumutung ist, darüber zucken andere nur wohlwollend mit der Schulter. Woran liegt es, dass Menschen unterschiedlich tolerant sind? Und lässt sich Toleranz lernen?

Spielfiguren in Regenbogenfarben. Laute Musik, telefonieren im Zug, Kindergeschrei – was für manche eine Zumutung ist, darüber zucken andere nur wohlwollend mit der Schulter. Woran liegt es, dass Menschen unterschiedlich tolerant sind? Und lässt sich Toleranz lernen? | Bild: picture alliance / Zoonar | Andrii Yalanskyi

Definition Toleranz: Was verstehen wir darunter?

Es gibt viele Möglichkeiten, Toleranz zu definieren. Fest steht: Toleranz kommt im Alltag dann ins Spiel, wenn etwas vorfällt, was ihr ablehnt. Nehmen wir an, ihr sitzt im Kino, und im spannendsten Moment - alles ist mucksmäuschenstill und hält den Atem an - fängt die Sitznachbarin an, per WhatsApp mit einer Freundin zu chatten. Das Licht ihres Smartphones leuchtet euch in die Augen, das Tippen lenkt euch ab. Kurz: Ihr ärgert euch und seid genervt. Jetzt gibt es mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen.

Die erste: Ihr sagt der Nachbarin, sie soll damit bitte aufhören, weil es euch stört. Seid ihr damit intolerant? Ja, denn indem ihr das tut, setzt ihr eure eigenen Interessen durch, "ohne dass das Gegenüber miteinbezogen worden ist", erklärt Sabine Sommer. Als Gründerin des Demokratie-Trainingspogramms betzavta bringt sie seit über zwei Jahrzehnten anderen Menschen bei, wie sich Toleranz lernen lässt.

Die zweite Möglichkeit: Ihr sagt nichts und ertragt bzw. erduldet die Situation. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes: tolerare. "Aus meiner Perspektive ist das eine scheinbare Toleranz", erklärt Sommer. "Nach außen hin bin ich tolerant, aber innen drin brodelt es." Auf Dauer kein guter Zustand. Wer über eine längere Zeit das Gefühl hat, sich ständig zurückhalten zu müssen, dem platzt irgendwann der Kragen. "Alle Menschen haben ein Recht auf Freiheit, das ist die Grundlage für eine tolerante Haltung", erklärt Trainerin Sabine Sommer. Die Kunst liege darin, dem anderen seine Rechte zu gewähren, ohne damit die eigenen Werte oder Bedürfnisse über Bord zu werfen. Deswegen definiert Sommer den Begriff Toleranz eher im Sinne von Ambiguitäts-Toleranz: Die Fähigkeit, Widersprüche zu erkennen, auszuhalten und konstruktiv damit umzugehen. Wie man das übt, lest ihr weiter unten.

Im Fall der Kino-Nachbarin gäbe es mehrere Optionen, meint Sabine Sommer. Die kreative Variante: Ihr zieht euer Handy raus, schreibt auf, wie es euch damit geht, dass eure Nachbarin chattet, und gebt es ihr zu lesen. Ihr tretet also mit ihr in Kontakt. Eine weitere Möglichkeit ist, empathisch auf die Person zu blicken: Vielleicht hat sie einen wichtigen Grund? Das würde den Konflikt entspannen. Und noch ein anderer Weg wäre es, den Kinobetreiber nach der Vorstellung darauf aufmerksam machen. Wäre es eventuell möglich, ein Handyverbotsschild anzubringen? In manchen Programmkinos gibt es so etwas.

Tipps: Wie lernt ihr, toleranter zu sein?

Es gibt viele Wege, sich in Toleranz zu üben. Hier ein paar Tipps dazu:

  • Versucht, euch in die Lage des anderen zu versetzen. Beispiel: Ein Nachbar übt nebenan Trompete. Es ist laut und ihr fühlt euch gestört. Ganz unabhängig von der Hausordnung, die Musikmachen zu bestimmten Zeiten erlaubt, könntet ihr versuchen, die Situation aus den Augen des Nachbarn zu betrachten. Vielleicht muss er zu dieser bestimmten Uhrzeit üben, weil er sonst keine Zeit hat? Wie würde es euch gehen, wenn ihr ein Instrument lernen wolltet und regelmäßig üben müsstet? "Wenn wir eine Verbindungslinie zum anderen finden, und einsehen, dass wir alle das gleiche Recht auf Freiheit haben, dürfte sich der Konflikt abmildern", sagt Toleranz-Trainerin Sabine Sommer. Denn: "Eine empathische Haltung sorgt häufig für Entspannung."
  • Überlegt euch, wie ihr mit eurem Gegenüber in Kontakt treten könnt. Beispielsweise so: "Sie üben gerade so viel, haben sie bald einen Auftritt? Bei mir ist es so: Ich versuche gerade einen Artikel zu schreiben und kann mich nicht konzentrieren …" Damit geben wir dem Gegenüber die Chance, einen Vorschlag zu machen. Das ist die Grundlage für eine friedliche Konfliktlösung: die Bedürfnisse, Interessen oder Ziele miteinander zu besprechen. "Toleranz-Erziehung bedeutet, wir haben immer eine Wahl" erklärt Sabine Sommer. "Und zwar nicht nur entweder oder, sondern: Wir können noch nach weiteren Optionen schauen."
  • Offenbleiben und zuhören. Um nach Lösungen zu suchen und dabei kreativ sein zu können, ist es wichtig, einen klaren Kopf zu bewahren. Eskaliert die Situation, schotten wir uns ab, sind also nicht mehr empfänglich für die Argumente oder Sichtweisen des anderen, auch nicht für eigene gute Ideen. Je nachdem wie verfahren die Situation ist, empfiehlt es sich, Hilfe zu holen. Jemand, der für einen sicheren Raum sorgt, bei dem beide Parteien ihre Anliegen in Ruhe vortragen können und beide einander zuhören können.

Vielfalt: Toleranz bringt uns einander näher

Toleranz: Wie bringe ich das meinen Kindern bei?

Wir alle sind von Kindesbeinen an geprägt von unserem Umfeld, von den Werten unserer Familie. Früher war das Erziehungskonzept weitgehend von Gehorsam und Disziplin bestimmt. Wer sich selbst und die eigenen Bedürfnisse allerdings nicht kennt, tut sich schwer, einen eigenen Standpunkt zu beziehen, Grenzen zu setzen, die Grenzen anderer zu wahren. Deswegen ist es wichtig, dass Kinder von klein auf den Raum bekommen, sich selbst und ihre Bedürfnisse zu erforschen.

In vielen Kindergärten gehört das zum pädagogischen Konzept, auch um den Kindern beizubringen, was das ist: Toleranz. Wenn Sabine Sommer mit Kindergartenkindern arbeitet, stehen am Anfang immer viele Fragen: "Wer bin ich? Wie nehme ich mich wahr? Wie nehme ich die anderen wahr?", erklärt die Trainerin. "Um dann zu sagen: Es gibt ein Recht auf Unterschiedlichkeit." Was macht es schwierig, was macht es leicht, im Team miteinander klarzukommen? Was wünscht ihr euch, und wie könnt ihr es erreichen? "Wenn wir es den Kindern zutrauen, und ihnen den Raum lassen, können sie sehr wohl sehr viel miteinander aushandeln." Das bedeutet nicht, dass die Erwachsenen die Kinder sich selbst überlassen sollen, oder sich umgekehrt mit moralischen Urteilen einmischen. Die Gratwanderung besteht darin, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem die Kinder selber erforschen können, wie ein gutes Miteinander gelingen kann.

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