Nachgefragt Was heißen Illusion und Nachahmung?
Beim epischen Theater wird das Publikum nicht unmittelbar emotional einbezogen. Im Gegensatz dazu beruht das aristotelische Theater auf Illusion und Mitgefühl. Worin genau liegen die Unterschiede? Wie wird das Publikum jeweils erreicht?
1. Gorgias: Das Recht der Täuschenden und Getäuschten
Von dem Gelehrten Gorgias aus Leontinoi auf Sizilien, dem berühmten Sophisten, , stammt die erste poetologische Überlegung zur dramatischen Dichtung überhaupt. Bereits dieser Sophist begriff, was dann Grundstein der Aristotelischen Poetik wurde und was Brecht mit seinem epischen Theater wiederrum in Frage stellt. Nämlich, dass die aufklärerische, erkenntnisstiftende Macht der Dichtung auf gelungener Täuschung/Illusion und Mitgefühl beruht: In der Tragödie, so der große Rhetoriker, hat
"derjenige, der täuscht, mehr Recht als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits versteht mehr, als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr Recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: denn schön läßt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist." (Gorgias von Leontinoi. Fragment 23)
Dies ist nicht etwa eine zynische Rechtfertigung aller Betrüger und Gauner, die "Recht haben", weil sie es schaffen, andere hinters Licht zu führen,. Im Gegenteil: Täuschung, d.h. die dramatische Illusion macht hiernach sehender! Wer von der fiktiven Bühnenwirklichkeit mitgerissen wird, der Getäuschte, "versteht mehr", als der, der sich von ihr nicht täuschen und mitreißen lässt! Warum? Weil das Drama nach Gorgias die Menschen quasi entführt, mitnimmt in eine Welt, deren Konturen und Züge gleichsam ausgeprägter und darum deutlicher erkennbar sind als im grauen Einerlei der Wirklichkeit.
D.h. Täuschung und Illusion sind hier – wie in der gesamten Poetologie bis Nietzsche – , nicht als Verstellung der "wahren" Welt und der "Vorspiegelung" falscher Tatsachen verstanden. Die dramatische Täuschung ist das Vehikel der Erkenntnis. Wie das genauer funktioniert, hält der Philosoph Aristoteles in seiner Poetologie fest.
2. Aristoteles: Nachahmung/Täuschung als Prinzip aller Dichtung
Alle Dichtung ist nach Aristoteles Nachahmung, mimesis´, was auf Griechisch „Nachahmumg“ bedeutet. Je nachdem, was nachgeahmt wird (Stoff), unterscheiden sich die Gattungen. Das Drama ahmt handelnde Menschen nach:
"Sie sind notwendigerweise entweder edel oder gemein; die Charaktere halten sich nämlich nahezu immer ausschließlich an diese beiden Kategorien; denn jedermann unterscheidet die Charaktere nach Tugend und Schlechtigkeit ... In demselben Punkte trennen sich auch Komödie und Tragödie. Die eine ahmt edlere, die andere gemeinere Menschen nach, als sie in Wirklichkeit sind." (Aristoteles Poetik Kap 2, Stuttgart 1981 S.24f.)
Die dramatische Nachahmung bildet hiernach das Wirkliche nicht einfach ab, sondern unterstreicht es in seinen jeweiligen Tendenzen, lässt die Konturen des Wirklichen fassbarer hervortreten: Sie zeigt das Gemeine gemeiner, das Edle edler als es ist.
Diese Überzeichnung des Wirklichen dient dazu, sich besser in ihm zurechtzufinden, erfahrener zu werden, zu lernen. Es täuscht den Zuschauern nicht etwas "Falsches" vor, es führt sie nicht, – wie der gewöhnliche und Brechts Täuschungsbegriff suggerieren – in die Irre. Nach Aristoteles gründet Dichtung als Nachahmung vielmehr in der Natur des Menschen: seinem Trieb, zu lernen und sich zu freuen, Spaß zu haben:
Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtung hervorgebracht zu haben, beide in der Natur begründet. Denn erstens ist das Nachahmen den Menschen von Kindheit an angeboren; darin unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen dass er am meisten zur Nachahmung befähigt ist. und das Lernen sich bei ihm am Anfang durch Nachahmung vollzieht. Aber die dichterische Nachahmung hängt nicht sklavisch am Wirklichen, an dem, was tatsächlich geschehen ist, sondern zeigt das Mögliche, oder wie Aristoteles auch sagt, das Wahrscheinliche:
"Es ist nicht Aufgabe des Dichters zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich ... darin, dass der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen ... Was nun überhaupt nicht geschehen kann, das halten wir auch dichterisch nicht für möglich. Was aber geschehen ist, von dem ist klar, dass es auch geschehen konnte; es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich gewesen wäre."
3. Brechts Umdeutung des Illusionstheaters
Um sich vom traditionellen Theater abzusetzen, macht Brecht aus der erkenntnisstiftenden Dimension der dramatischen Täuschung ein bloßes Täuschungsmanöver. Der entscheidende Unterschied zwischen seinem epischen Theaterkonzept und dem traditionellen ist, dass das epische Theater den Zuschauer außen vorhält, nicht unmittelbar emotional involviert. Um diese Betrachterposition außerhalb der dargestellten Welt herzustellen und einzuräumen sind die Verfremdungseffekte nötig.
In seinen Schriften zum Theater erläutert er diesen prinzipiellen Unterschied zwischen dem konventionellen und dem epischen Theater mit einem treffenden Vergleich: Wie in einem (Kinder-)Karussell mit hölzernen Pferden, Autos und Flugzeugen ergehe es dem Zuschauer im traditionellen Theater (=K-Typus): Er erlebt die Fiktion von Freiheit, von eigener Aktivität (reiten, fliegen, Auto fahren), wird aber mechanisch mitgerissen, gerät durch die Musik in einen Trancezustand und verliert den Boden unter den Füßen. Im epischen Theater indes fühle sich der Zuschauer wie im Planetarium (P-Typus): Von seinem festen Standort aus gewinne er Einblick in die Bewegungsgesetze der Gestirne, der Weltkörper.
"Die Dramatik vom P-Typus ... setzt ihn (den Zuschauer) doch mehr instand, zu handeln. Ihr sensationeller Schritt, die Einfühlung des Zuschauers weitgehend aufzugeben, hat nur den einen Zweck, die Welt in ihren Darstellungen dem Menschen auszuliefern, anstatt, wie es die Dramatik vom K-Typus tut, der Welt den Menschen auszuliefern." (Brecht zitiert nach Lazarowicz S.86)
Für Dürrenmatt indes bestand gerade hierin die große Illusion Brechts: In dem Glauben, dass der Mensch einen Standpunkt außerhalb der Welt einnehmen könne, von dem aus er sie unbeteiligt analysieren und richten könne.
Quellen:
- Aristoteles. Poetik. Übersetzt und eingeleitet von Olof Gigon. Stuttgart 1981
- Klaus Lazarowicz und Christopher Balme (Hg.). Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991.