Fakten Textanalyse am Beispiel Epik
Wie geht man bei der Analyse fiktionaler Texte vor? Welche klassischen Aufgabenstellungen und Tipps gibt es? Welche Fragen sollte man an den Text stellen?
1. Analysieren Sie die Erzählperspektive dieser Erzählung/dieses Romans
Diese Aufgabe verlangt ein Vorwissen über die verschiedenen Erzählsituationen: "Man muss dazu die verschiedenen Erzählperspektiven kennen: Die auktoriale Erzählperspektive, die personale und die Möglichkeit des Autors, aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Die auktoriale Erzählsituation liegt vor, wenn der Dichter einen Erzähler einführt, der alles weiß und den Leser quasi durch die Geschichte hindurchführt. Bei dieser Erzählperspektive, die auch oft als "olympische Perspektive" bezeichnet wird, sind Rückblenden möglich, Ortswechsel, Kommentare, Hintergründe, alles kennt der fiktive Erzähler und alles kann er dem Leser mitteilen. Die personale Erzählsituation ist wesentlich subjektiver. Hier erfährt der Leser die Geschichte allein aus der Perspektive einer ganz bestimmten Figur, die in der erzählten Handlung eine Rolle spielt." (Reinhold Pöllmann)
Die Ich-Erzählperspektive, bei der der Autor ein "Ich" einführt, das die Geschichte erzählt, scheint nur auf den ersten Blick am einfachsten erkennbar und interpretierbar zu sein. Denn das Ich ist erstens nicht mit dem Autor identisch – dies ist nur der Fall bei explizit autobiografischen (Sach-)Texten, die als zeitgeschichtliche Erinnerung, nicht als Roman auftreten. Die Ich-Perspektive in Romanen und Erzählungen kann zweitens sowohl eine auktoriale Prägung haben als auch eine personale. Letzteres ist der Fall bei Kafkas Erzählung Der Schlag ans Hoftor, wo das Geschehen nur aus der beschränkten Sicht eines erlebenden, in die Handlung involvierten Ichs erzählt wird, das – wie bei der personalen Erzählsituation – keinen Überblick und keine Deutung des Ganzen hat und vermitteln kann. Anders verhält sich der auktoriale Ich-Erzähler, z.B. der allwissende Erzähler, den Thomas Mann im Doktor Faustus die Geschichte seines Freundes Leverkühn erzählen lässt. Der auktoriale Ich-Erzähler erlebt das Geschehen nicht unmittelbar mit, sondern erinnert es aus der Distanz, kommentiert und wertet das einst Erlebte und schafft, nicht selten durch Ironie, Distanz.
Eine Checkliste, um herauszubekommen, um welche Perspektive es sich handelt, wäre:
Lenkt ein allwissender Erzähler, der kommentiert und ironisiert, der in die Figuren hineinschaut, der weiß, was vorher war, und schon andeutet, was dann geschieht, die Erzählung?
Zwingt der Autor den Lesern durch einen sich als Komplizen anbandelnden Erzähler eine Meinung auf und/oder ermöglicht er Distanz zum erzählten Geschehen? Wenn ja, dann haben wir es mit der auktorialen Erzählsituation zu tun.
Wird ein Ich-Erzähler eingeführt, der auf sich und seine früheren Erlebnisse zurückblickt, sie kommentiert – all das aus der Distanz der heutigen Erzählsituation zum ehemaligen Erleben? Wenn ja, dann haben wir es mit einem auktorial geprägten Ich-Erzähler zu tun, der keineswegs mit dem Autor identisch sein muss, und der als Stilmittel zahlreicher autobiografischer Romane eingesetzt wird.
Wird ein Ich-Erzähler eingeführt, der scheinbar ganz im erlebten Geschehen aufgeht und nicht über es hinausblickt? Verlangt das Geschehen aktive Lesearbeit, das Eintauchen in die Geschichte? Wenn ja, dann haben wir es mit einer höchst kunstvollen Wiederholung des Erlebten zu tun, die die personal geprägte Ich-Erzählsituation auszeichnet. Ohne jede deutende Distanz scheinen hier erlebendes und erzählendes Ich identisch zu sein.
Als ein ungeheuer beeindruckendes Beispiel dieser Perspektive sei Ihnen zur Abwechslung mal ein ungarischer Roman empfohlen: Imre Kertesz. Roman eines Schicksallosen. Kertesz, der selbst Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, lässt in diesem Roman einen 15-jährigen Jungen die Deportation erfahren: Er erzählt die Geschichte völlig distanzlos aus der Perspektive des unmittelbar erlebenden Ichs, ohne das nachträgliche Wissen und die Deutungen des Völkermords. Dadurch hat der Leser unmittelbar Teil an den immer entsetzlicheren Gräueln, die dem Jungen widerfahren und aus dem arglosen Schüler einen gelehrigen Überlebenskünstler werden lassen.
Wird die Geschichte aus der Erlebnisperspektive einer in die Handlung involvierten Figur erzählt? Wird Spannung und Verwirrung dadurch erzeugt, dass der Autor dem Leser (wie der erzählenden Romanfigur) Informationen vorenthält? Wenn ja, dann liegt die personale Erzählsituation vor. Sie wurde im modernen Roman zu Beginn des letzten Jahrhunderts radikalisiert zu einer "neutralen" Erzählperspektive, bei der sich der Autor ganz hinter vielen verschiedenen Figuren versteckt, die sukzessive aus ihrer jeweils begrenzten Situation das Geschehen erzählen und reflektieren. Innere Monologe und der Wechsel von Innen- und Außenperspektive sind weitere Kennzeichen dieser Haltung.
2. Geben Sie in eigenen Worten den Inhalt der Erzählung/des Romans bzw. eines Kapitels daraus wieder
Zur Lösung dieser Aufgabe benötigen Sie kein Vorwissen, nur Konzentration beim Lesen und einen Stift zum Exzerpieren und/oder Markieren von Textstellen.
Die Arbeitsschritte bei der Inhaltsangabe fiktiver Texte sind ganz ähnlich wie bei Sachtexten.
- Lesen Sie den Text möglichst mehrmals gründlich.
- Markieren Sie sich im Text die Angaben über Ort, Milieu und Zeit der Handlung und über die Protagonisten.
- Suchen Sie nach Schlüsselworten im Text und markieren Sie sie.
- Gliedern Sie den Text in Sinnabschnitte: Handlungsstränge, Orts- oder Zeitwechsel, Personen- oder Erzählerwechsel etc. Oft kann man sich an die Absätze oder Kapitelunterteilungen selbst halten.
- Markieren sie sich auffällige sprachliche Besonderheiten (fast nur Dialoge, poetisierende Metaphern etc.)
- Überlegen Sie, welche übergeordnete Thematik hier behandelt wird und formulieren Sie den ersten Satz über das Thema, z.B. : Erzählt wird die Geschichte einer Familie über Generationen (Buddenbrooks) oder von der Problematik eines Künstlerlebens (Doktor Faustus) etc.
- Fassen Sie in eigenen Worten knapp den zentralen Handlungsablauf zusammen, reduzieren Sie dabei das Werk auf seine Fabel und vermeiden Sie Wertungen.
3. Charakterisieren Sie den Aufbau der Erzählung/des Romans
Auch hierfür ist kein Vorwissen nötig, nur eine gründliche Lektüre, die sich selbst reflektiert, z.B. mit folgenden Fragen:
Werde ich als Leser unmittelbar in das Geschehen/die Situation hineingezogen? – Das wäre ein Indiz dafür, dass eine Einführung und jegliche Rahmenerzählung fehlen.
Kann ich schon nach den ersten Sätzen das Buch nicht mehr aus der Hand legen? – Das wollen zwar die meisten Autoren, aber das schaffen besonders die Texte, die die Spannung gezielt aufbauen und entweder auf den Verlauf oder ganz auf das Ende der Handlung richten.
Ist die Handlung überhaupt geschlossen? Wenn nicht, dann haben wir es mit einem offenen Ende zu tun, wie bei vielen modernen Kurzgeschichten.
Gibt es mehrere Handlungsstränge? Wie werden Sie verbunden? Muss ich selbst viel kombinieren und Zusammenhänge entdecken? Oder wird mir die Handlung lückenlos dargeboten? Im ersten Fall ist der Roman gleichsam wie ein Puzzle aufgebaut, das der Leser aktiv mit zusammensetzen muss (Collage- und Montagetechnik). Im zweiten Fall begegnet er einem als ein fertiger, begehbarer Raum, in dem man sukzessive entdeckt, was der Autor durch seinen Erzähler sehen lassen will.
Fällt die Stimmung und Bewegung im Zuge der Handlung ab, steigt sie oder bleibt sie auf einer Ebene? Im ersten Fall haben wir es mit dem "Desillusionisierungsschema" (Gelfert S.47) zu tun: Protagonist wie Leser fallen von anfänglicher Euphorie und Lebendigkeit in eine zunehmend triste Rat- und Ausweglosigkeit. Ein so prominentes wie hinreißendes Beispiel hierfür ist Flauberts Madame Bovary. Im zweiten Fall handelt es sich um das beim Bildungsroman so bewährte "Entwicklungsschema": Leser wie Protagonist tauchen mit allen Sinnen ein in eine immer differenziertere und reichere Welt und entwickeln und bewähren sich erfreulich gut darin. Goethes Wilhelm Meister hat dieses Romanschema zur Perfektion gebracht. Im dritten Fall handelt es sich um den "horizontalen Erzählfluss" (Gelfert S.49), der mehrere Handlungsstränge fast zeitgleich nebeneinander montiert und darauf verzichtet, Höhepunkte zu setzen. Prominentestes Beispiel für diesen Handlungsaufbau ist James Joyce' Ulysses.
4. Charakterisieren Sie die Sprache und die besonderen Stilmittel der Erzählung/des Romankapitels
Hier ist wieder etwas Vorwissen nötig, aber noch wichtiger ist, dass Sie sich die sprachlich auffälligen Passagen bei genauer Lektüre markieren und fragen, welche Funktion sie haben, was sie bewirken.
Welche Syntax herrscht vor? Sind die Sätze lang oder kurz? Wenn lang, sind sie mehrfach untergliedert und verschachtelt (Hypotaxe). Oder sind nur kurze Sätze und Gliedsätze parataktisch aneinandergereiht und also verständlicher?
Kennzeichnet der Autor vielleicht die verschiedenen Personen durch die unterschiedlichen Satztypen in ihrem Status, Charakter, ihrer Bildung oder in ihrem Bildungsdünkel? Benutzt der Autor meist die direkte Rede, um dem Romangeschehen einen dramatischen Charakter zu geben?
Benutzt er oft die indirekte Rede, um eine Distanzierung vom und Versachlichung des erzählten Geschehens herbeizuführen?
Bedient er sich in der Regel einer gelehrten Schriftsprache, der Alltagssprache, des Dialekts oder einer Szenensprache, und was bewirkt er damit?
Spricht er im substantivischen Stil oder im lebendigeren Verbalstil?
Benutzt er viele Bilder, Metaphern und Vergleiche, und wenn ja, sind sie treffend oder schief?
Benutzt er Wortspiele?
Setzt er absichtlich oder nicht auf Zweideutigkeiten?
Wendet er Ironie an?
Erzählt er mit Humor oder bitterernst?
Erzählt er ausufernd, blumig, oder eher puristisch, komprimiert, und wenn Letzteres: mehr in Andeutungen oder trifft er in aller Kürze immer den Kern der Sache?
Ist sein Ton persönlich, emotional oder nüchtern, unbeteiligt?
Ist der Wortschatz im Roman eher abwechslungsreich oder eintönig, oder differenziert der Autor da zwischen den Figuren. Wenn ja, welcher Eindruck wird dadurch von ihnen vermittelt?
Streichen Sie sich die charakteristischen Stilmittel im Text an und zitieren Sie sie als Beleg. Vergessen Sie nie zu sagen, was mit den formalen Mitteln inhaltlich erreicht wird.
Quelle:
Hans-Dieter Gelfert. Wie interpretiert man ein Drama? Stuttgart 2000